Montag, 9. September 2019

Schutzschirm gegen rechts: Arbeitslosigkeit soll deutlich steigen


Es waren Zahlen, mit denen in dieser Deutlichkeit kaum jemand gerechnet hatte. Selbst Thomas Krüger, bekanntgeworden durch seinen Versuch, nackt ins Bundesparlament einzuziehen, zeigte sich überrascht. Der SPD-Politiker, nach seinem Scheitern bei der Bundestagswahl 1998 mit dem Posten des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) abgefunden, musste einräumen, dass Berufstätige am anfälligsten für rechtsextremistische Ansichten sind: Nicht abgehängte Sachsen, arbeitslose Brandenburger oder Mecklenburger ohne Perspektive gehen danach am ehesten hinterlisten Bauernfängermethoden der Rechtsfaschisten auf den Leim. Sondern nicht mehr ganz junge und noch nicht ganz alte Bürger aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum.

Trotzige Erwerbstätige


Es sind diese Menschen, die die Umsetzung der Klimapläne der Bundesregierung gefährden und bei Wahlen trotzig zum eigenen Schaden abstimmen. Auffallend dabei ist, dass Bürgerinnen und Bürger je mehr betroffen sind, je weniger Zeit ihnen aufgrund beruflicher Belastungen bleibt, ordentlich Pflichtstunden in den Konsum von Medien wie ARD, ZDF oder Frankfurter Rundschau zu investieren. Thomas Krüger will nun gegensteuern. Da eine weitere Erhöhung der Bemühungen um mehr politische Bildung bei Berufstätigen offenbar verpufft - in den vergangenen fünf Jahren die Bundeszentrale ihren Etat von 37 Millionen Euro auf mehr als 54 Millionen Euro hochgefahren und mit dem Fachbereich Politikferne Zielgruppen (FBPZ) eine eigene Special Unit zur Rettung verlorener Demokratenseelen gegründet -, will Krüger die Aufgabe der Bundeszentrale, "durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern" über einen Umweg erfüllen.

Blind für Reißzähne


Die aktuelle Umfrage zeige eine Unwucht zwischen jüngeren und älteren Nicht-Berufstätigen und Menschen im mittleren Alter, denen es offenbar aufgrund von Belastungen im Job nicht möglich sei, die Reißzähne von bereits mehrfach überführten Rechtspopulisten wie Alexander Gauland, Björn Höcke und Andreas Kalbitz zu sehen. „Die Problemgruppe Nummer eins sind die berufsaktiven Menschen“, sagt Thomas Krüger. Diese Menschen seien bislang nicht in formale Infrastrukturen politischer Bildung eingebunden und sie hätten neben Job und Familie ein relativ geringes Zeitbudget zur Verfügung. Hier wolle man ansetzen.

Krüger sieht dabei vor allem eine Stellschraube: Erhöhe sich die Zahl der Arbeitslosen, verbliebe den Betroffenen mehr Zeit, BPB-Angebote in den klassischen und den sozialen Medien anzunehmen und die eigene politische Bildung zu verstärken. Es reiche jedoch nicht, auf eine in Kürze einsetzende Wirtschaftskrise zu hoffen, das hätten die jüngsten Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg gezeigt, bei denen rund ein Viertel der Anderwahlteilnehmenden sich entschieden hätten, verfassungsfeindlich zu wählen. Die Ursache ist kaum zu übersehen: In Sachsen verursachte die vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquote von nur 5,4 Prozent einen Stimmemanteil der AfD von 27,5 Prozent. Während es in Brandenburg gelang, die AfD mit einer nur leicht höheren Arbeitslosenquote von 5,6 Prozent bei 23,5 Prozent zu deckeln.

Mehr Arbeitlose, weniger AfD


Rein rechnerisch, haben die Wissenschaftler der zum Bundesinnenministerium gehörenden Bundeszentrale errechnet, entspricht damit eine Erhöhung der Arbeitslosenquote um 0,2 Prozent einem Stimmenverlust der AfD von ganzen vier Prozent. "Das heißt, mit einer nur um 1,2 Prozent insgesamt höheren Erwerbslosenzahl ließe sich das AfD-Ergebnis auf Null drücken", erklärt eine Mitarbeiter des Fachbereichs Politikferne Zielgruppen (FBPZ).

Zuletzt seien erste Erfolge erzielt worden, es gelang der Bundesregierung, die Zahl der Arbeitslosen durch eine kluge Politik der Steuererhöhungen, verschobenen Reformen und des konzentrierten Stillhaltens erstmals seit April wieder nennenswert zu erhöhen. Damit habe sich die Zielgruppe der staatstragenden Botschaften der Bundeszentrale bedeutend erhöht, beschreibt Thomas Krüger. Allerdings setze im Augenblick noch "die verfassungsmäßig vorgesehene Staatsferne des Rundfunks bei stärkeren Angeboten in den klassischen Medien" gewisse Grenzen, so dass es kaum möglich sei, Erwerbslosen eine Zuschaupflicht aufzuerleben, wenn bei "Tagesthemen", "Tagesschau" oder "Monitor" mitgeteilt werde, wie richtig zu denken und zu sprechen sei. Thomas Krüger sieht hier Nachholbedarf. „Einige rechtskonforme kreative Modelle hat es gegeben. Wir brauchen aber mehr professionelle Partnerschaften und auch die nötigen Ressourcen dazu.“

Sonntag, 8. September 2019

Zitate zur Zeit: Nächstenliebe eines Sozialdemokraten


"Das einzige, was dieses Bundesland noch retten kann, ist eine Koalition aus RAF und Royal Air Force".

Der SPD-Komiker Jan Böhmermann fordert eine Zusammenarbeit von Boris Johnsons Brexit-Luftwaffe und linkem Terrorismus zur Korrektur falscher Wahlentscheidungen in Sachsen.

Ölheizungsverbot: 100 Milliarden für die Rettung der Welt

Wenn Heizen mittels umweltfreundlicher Solarpanele aus Ethylenvinylacetat, Polyvinylfluorid, Glas, Konzentratorzellen und Lötbändern Pflicht wird,darf sich das deutsche Handwerk auf Aufträge im wert von 150 Milliarden Euro freuen.
Dass es Verbote von Luftballonstäbchen, Papp-Kaffeebecher, Plastikstrohhalm und wiederverwendbare Einkaufstüte nicht reißen werden, ahnten selbst die größten Umweltoptimisten in der Bundesregierung. Zu selten werden die symbolischen Umweltkiller benutzt, zu unbequem sind  den urbanen Eliten die möglichen Alternativen. Es braucht härtere Maßnahmen, Veränderungen, die Schmerzen bereiten und Umweltfrevlern, die unsere Zukunft klauen, empfindlich an den Geldbeutel gehen. Darüber herrscht Einigkeit bei der SPD, die in neuen Steuern und Abgaben, einer strengeren Verbotspolitik und einem Ausbau staatlicher Überwachung und behördlicher Lenkung den Königsweg aus dem Jammertal der desaströsen Wahlergebnisse sieht.

Nur wenige Stunden, nachdem der kommende SPD-Notvorsitzende Olaf Scholz öffentlich seine Genehmigung zur Entwicklung neuer Ideen für neue Steuern gegeben hatte, preschte Umweltministerin Svenja Schulze vor: Integraler und zentraler Bestandteil des geplanten Klimapakets der Bundesregierung soll das Verbot von Millionen Ölheizungen in Deutschland sein, mit denen gewissen- und bedenkenlose Klimaleugner derzeit noch das globale Klima aufheizen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Etwa fünf bis sechs Millionen solcher Weltklimaheizungen auf Ölbasis werden im Moment noch in Deutschland betrieben, neben der Wärme für rund 20 Millionen Menschen liefern sie alljährlich auch etwa 18 Millionen Tonnen CO2. Das entspricht einem Anteil an der deutschen Gesamtkohlendioxidherstellung von etwa zwei Prozent.

Zwei Prozent zuviel, ist Svenja Schulze überzeugt, denn die da mit Öl heizen, sind vor allem gutsituierte Einfamilienhausbesitzer im ländlichen Raum - eine gesellschaftliche Gruppe, die überdies als übermotorisiert, flächenversiegelnd und pendelfreudig gilt. Bei diesem Menschenschlag, sagt Schulze, „genügen die Appelle an die Vernunft nicht.“ Deutschland brauche einen "Mix aus Verboten und Anreizen", offenbarte sie ihre Umbaupläne für die deutsche Heizlandschaft. Für die nächsten zehn Jahre, umriss sie den Zeitplan, den das Klimakabinett Ende des Monats beschließen wird, könne der Staat beim Umrüsten alter Ölheizungen etwa auf den Betrieb mit Wind, Sonne oder Bioenergie helfen. "Danach sind sie komplett verboten".

Ein Segen nicht nur für die Umwelt und die deutsche Klimabilanz, deren"CO2-Verbrauch" (Malu Dreyer) trotz allerbester fester Vorsätze in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr gesunken ist. Je nach Wahl der künftigen Heizungsart darf das deutsche Handwerk sich auf Aufträge im Bereich zwischen 50 und 100 Milliarden Euro freuen, sobald die große Koalition im Rahmen ihres umfassenden Klimaschutzprogrammes eine Liste der künftig noch zulässigen Heizungsarten verabschiedet hat.

Als klimafreundliche Alternative neben Solarheizungen und Windkraftöfen gelten insbesondere Wärmepumpen und Pellet- sowie Hackschitzelheizungen, sofern sie nicht mit Tropenholz befeuert werden. Entscheidet sich die Bundesregierung für einen generellen Umbauzwang, der nur noch diese Alternativen zulässt, hätten Eigenheimbesitzer und Kleinvermieter sogar die Chance, bis zu 150 Milliarden Euro zu investieren, von denen der Bund über komplizierte Förderprogramme bis zu 15 Prozent übernehmen würde. Kein Problem, denn allein durch die Umsatzsteuer auf die neueinzubauenden Ersatzheizungen darf der Staat mit rund 30 Milliarden Euro Mehreinnahmen rechnen.

Wie der Verkehrssektor, die Industrie und alle anderen gesellschaftlichen Sektoren hatte auch der  Gebäudebereich in den vergangenen 25 Jahren nur sehr geringe Fortschritte bei der CO2-Einsparung gemacht. Der "Gesamtverbrauch an CO2" (ZDF) sank den Daten des Umweltbundesamtes zufolge in den vergangenen zehn Jahren überhaupt nicht mehr. Deshalb hatte die derzeit noch amtierende CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer in der Vergangenheit bereits eine Abwrackprämie für alte Ölheizungen vorgeschlagen. Ein komplettes Verbot verlangten bislang nur die Grünen.

Samstag, 7. September 2019

Zitate zur Zeit: Humor schafft Distanz

Inszeniert wie die Queen: Greta I. auf dem Cover von "Time".

Dass unverwüstliche Oberkitschproduzenten wie Konstantin Wecker („weiterhin verwundbar sein“) einem heute wieder von Plakaten entgegenlächeln, so als seien die siebziger Jahre nie zu Ende gegangen, ist ein Signum unserer Zeit.

Humor schafft Distanz und hilft damit bei der Erkenntnisgewinnung. Umgekehrt vernebelt der Sentimentalismus nicht nur die ästhetische Vernunft.

Auch wenn von Konstantin Wecker die Empfehlung stammt, man solle mit dem Kopf fühlen und dem Herzen denken, so eignet sich das Herz leider nur bedingt zu Verstandeszwecken, wie sich schnell zeigen lässt.

Aus der Tatsache, dass uns etwas besonders nahegeht, folgt noch nicht, dass es auch in der Realität besonders bedeutsam wäre.

Jan Fleischhauer erlaubt Witze gegen Greta


Great Greta: Eine Klimapuppe für die Welt

Täuschend echt: Die erste Greta-Puppe für Klimaaktivisten.

Ein halbes Jahr nach dem großen Durchbruch der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg ist der Hauptfeind der Bewegung ausgemacht und die Idee vom "Schulstreik" auch in den USA angekommen. Pünktlich zu dieser european invasion widmet nun ein kleines, aber hochinnovatives deutsches Start-up der Weltikone des Überlebenskampfes des Planeten eine eigene Puppe. Mit süßem Kinderspielzeug hat diese aber wenig zu tun.

„Masterpuppets“ heißt das junge Unternehmen aus dem Kreis Quedlinburg im abgehängten Sachsen-Anhalt, das maßstabsgetreue Miniatur-Dolls von Stars aller Art fertigt. Ein Geschäft, das mit 3D-Scannern aus der Weltraumfahrt und Druckern aus China arbeitet, die eine Art besonderes Granulat verwerten, um täuschend echte Kleinausgaben von Elvis Presley, Klaus Jürgen Wussow oder Angela Merkel herzustellen. Ein Riesengeschäft, weil immer mehr Menschen das Bedürfnis haben, in einer Welt, die sich unentwegt zu verändern scheint und alle familiären Bindungen in einer neoliberalen Säure auflöst, bekannte Gesichter und Formen um sich zu haben.

Die geniale Idee hatte der frühere Ostdeutsche Heiko Weidenbart im Juni vergangenen Jahres bei einem Rundgang auf einem sogenannten Polenmarkt, auf dem Miniaturfiguren von Promis verkauft wurden, die, so sagt er, „kaum zu erkennen waren“. Das geht besser, dachte er sich und gründete Masterpuppets - die Firma hat nichts Geringeres vor, als den Merchandising-Markt zu revolutionieren.

Doch das ist nicht alles, wie die aktuelle Initiative der inzwischen 45 Mitarbeiter zeigt. Statt immer nur DSDS-Stars, Schlagersänger und beliebte Politiker als Puppen herauszubringen, die Fans sich in die Schrankwand stellen können, soll die neue 3-D-Druckertechnologie von Masterpuppets, die sonst vor allem im Maschinenbau und in der Medizintechnik verwendet wird, jetzt für einen guten Zweck eingesetzt werden. Firmenchef Weidenbart nämlich hat sich entschlossen, eine Greta-Thunberg-Puppe herauszubringen, die für das Klimaschutzanliegen der bekannten Schwedin werben soll.

Thunberg, die erst Ende Juli ihre erste CD veröffentlicht hatte, wäre die erste Künstlerin, die ihr Merch nicht mit T-Shirts, Postern und Basecaps startet, sondern mit einer 3D-Puppe, dem Premiumsegment des Andenkenhandels. Geht es nach Weidenbart, sollen Fans der kleinen Schwedin bereits während ihrer gerade begonnenen Amerika-Tour Miniaturfiguren der 16-Jährigen kaufen können, die ein 3-D-Scanner, der mit 140 Kameras gleichzeitig aus allen denkbaren Winkeln Fotos von Thunberg gemacht hat, mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz zu einem dreidimensionalen Modell zusammengeführt hat.

Ein 3-D-Drucker erstellt schließlich das fertige Bioton-Figur-Persönchen im Maßstab eins zu 20. Der Detailgrad der kleinen Action-Figur ist enorm. Sie gleicht ihrem Alter-Ego bis aufs Haar, selbst der Gesichtsausdruck, Wimpern, Falten in der Kleidung oder Schnürsenkel lassen sich darstellen. Das Ergebnis ist detailgetreu bis in die Haarspitzen der langen Zöpfe, die der Amerikaner „Pigtails“ nennt.

Die Greta-Puppe, die Heiko Weidenbart aus Markenrechtsgründen nur „Gerta“ nennt, weil der Originalklimaschutzname schon seit Jahren  als Marke eingetragen ist, trägt ein typisches Schulmädchen-Outfit, sachlich-züchtig, aber auch ein wenig alarmierend, das dem von Thunberg in den frühen Tages des Klimakampfes benutzten Dresscodes ähnlich ist - stilecht mit Gummischuhen und roten Applikationen. Ganze sechs Wochen braucht Masterpuppets für eine Puppe, doch die Arbeit lohnt sich, denn die Puppen, die die Puppenkünstler aus dem Vorharz erschaffen, sind einfach genial.

Die "Great Greta", wie Heiko Weidenbart schmunzelnd sein "Meisterstück" nennt, geht für 29,90 Euro über den Ladentisch, ein Euro ist dabei für Klimaschutz- und Brandbekämpfungsprojekte im Amazonas vorgesehen. Bestellungen sind hier möglich.


Freitag, 6. September 2019

Haribo: Hass in Tüten

Die Guten ins Töpfchen, alle Andersfarbigen in eine andere Tüte: Mit einer süßen Portion Rassismus beendet Haribo die Ära der bunten Bären aus Knochenleim.
Segregation im Namen einer rechtspopulistischen Identitätspolitik: Was mehr und mehr viele Länder Europas und in Deutschland vor allem die abgehängten und ohnehin weitgehend menschenleeren Gebiete im Osten prägt, findet nun auch seine Entsprechung im Süßwarenregal. Der rheinländische Konzern Haribo hat auf die Nachfrage nach sortenreiner Sortierung reagiert und bietet jetzt Gummibärchen an, die streng nach Farben geordnet sind.

Die angeblich die Geschmacksrichtungen Erdbeere, Himbeere, Apfel, Orange, Zitrone und Ananas verkörpernden Fruchtgummis aus Zucker, Glukosesirup, Wasser und gelierter geschmacksneutralen tierischen Proteinen aus denaturiertem und hydrolysiertem Bindegewebe toter Schweine und Rinder waren bisher stets bunt und farbübergreifend gemischt ausgeliefert worden. Damit ist bald Schluss – zumindest für einen gewissen Aktionszeitraum, in dem die einst von Firmengründer Hans Rieger als „Tanzbären“ erfundenen Leckereien aus Glutinleim testhalber segregiert und nach Hautfarben getrennt verpackt und ausgeliefert werden.

Haribo, das seit dem großen Expansionsjahr, als man in Kopenhagen die Haribo Lakrids A/S gründete, mit dem Satz "Haribo macht Kinder froh" wirbt, reagiert mit dem einfarbigen Angebot, die jeweils eine der angeblich seit jeher hergestellten sechs Geschmacksrichtungen pro Packung enthält, auf einen bereits seit längerer Zeit spürbaren Trend zur Rückbesinnung auf vermeintliche Identitäten, aufgrund derer sich gesellschaftliche Gruppen immer öfter und immer kleinteiliger selbst von anderen abgrenzen.

Ostdeutsche, Sachsen, Westdeutsche, AfD-Wähler, Rechte, Linke, Rechtsextreme, Rechtsextremisten, Demokraten, Mitttelschichter, Anständige, Muslime (früher: "Moslems"), Wutbürger, Migranten, ARD-Mitareiter, Abgehängte, Rechtspopulisten und "Spiegel"-Reporter - obwohl jeder menschliche Organismus in sich von Natur aus eine reine Vielheit verkörpert, tritt vermehrt das Bedürfnis auf, sich gruppenspezifisch von anderen abzugrenzen, um sein Dasein als einzigartige Individualität durch ein vermeintliches genetisches und geistiges Band durch eine Einordnung in Ähnlichkeitsklassen zu betonen.

Der Preis, den die Gesamtgesellschaft für diese freiwillige Apartheid zahlt, ist hoch, der Preis, den Haribo für die Spiegelung des Trends in seinen sortenreinen Tüten verlangt, kommt vergleichsweise günstig: Im Online-Shop des Herstellers, hat das Qualitätsmagazin "Stern" recherchiert, sind die Tüten mit nur einer Geschmackssorte 17 Cent teurer als die fröhliche, bunte und weltoffene Variante mit sechs unbefangen nebeneinander liegenden verschiedenfarbigen Knochenleimleckereien.

Braunkohleausstieg: Kleingeld für das Klima

Vierzig Milliarden für den Braunkohlenausstieg - genau betrachetet ist die Summe aber viel niedriger.
Vierzig Milliarden! Vierzig Milliarden stellt die Bundesregierung bereit, um die Folgen des geplanten Braunkohleausstiegs "abzufedern" (Reiner Haseloff). Vierzig Milliarden, die schon Wirkung zeigen, ehe noch der erste Cent geflossen ist: Wie erhofft nennt die ARD-Tagesschau die Summe "viel Geld", anderswo ist von "mehr Kohle" die Rede und bei den Leitmedien werden schon begeistert Wege diskutiert, wie mit den "Milliarden-Investitionen" tausend tolle Dinge in den "betroffenen Ländern" (Tagesspiegel) erbaut und gegründet werden werden, die einen "Ausgleich für den Braunkohleausstieg" schaffen.

Vierzig Milliarden, das klingt für die Ohren eines normalen Menschen ja auch groß und mächtig. Trotz der Summenexzesse der Finanzkrise, der Geldschwemme nach dem "Flüchtlingszustrom" (Angela Merkel) und den Rettungsbillionen, mit denen die EZB die Wirtschaft der Euro-Zone am Laufen hält, ist der Durchschnittsbürger von Zahlen mit neun Nullen immer noch beeindruckt. 40 Milliarden haben zehn, es ist eine eine wirklich große Zahl, die nach dem zweiten Gesetz der Mediendynamik, auch bekannt als Gesetz großen Zahl, eine Magie zu entfalten in der Lage ist, deren propagandistischer Kraft selbst nachdenkliche Gemüter automatisch erliegen.

40 Milliarden, so sind sie überzeugt, reichen nicht nur für sagenhaft viele neue Bildungs- und Forschungseinrichtungen in den vier Braunkohlebundesländern, etwa für "3.000 Informatiker in einem Haus am See", für renaturierte Tagebaue, neue Bahnstrecken, Zubringerstraßen und den Umbau von Armenhäusern in "Metropolregionen". Sondern nebenbei auch noch für die Umschulung zehntausender Bergarbeiter, den Neustart des Tourismus und die Reinigung des Naumburger Doms.

Insgesamt 40 Milliarden Euro will der Bund bis 2038 in jenen Regionen investieren, die vom Kohleausstieg betroffen sind - doch das ist eine Investition zuallererst in gute Laune, denn diese Summe, planmäßig verteilt über 20 Jahre, entspricht bei einer Inflationsrate von durchschnittlich 1,9 Prozent schon nur noch einer tatsächlichen Auszahlung von 27 Milliarden. Das entspricht ziemlich exakt der Summe, die der Bund zwischen 2014 und 2018 an unplanmäßige Steuermehreinnahmen verzeichnet hat. Und dem anderthalbfachen dessen, was im ersten Halbjahr 2019 an Einnahmeplus bei Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen ankam.

Auch das ist viel Geld. Aber es verteilt sich eben auf 19 Jahre, so dass das 40-Milliarden-Füllhorn über die Zeit weniger sprudeln als vielmehr tröpfeln wird: Auf Hilfen von etwa 1,35 Milliarden pro Jahr dürfen die vier Braunkohleländer hoffen. Nicht jeweils, sondern zusammen. Für Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt springen damit jährlich effektiv rund 340 Millionen heraus. Das ist der Betrag, den der Bund im vergangenen Jahr als Dürrehilfe für die deutschen Bauern zusagte, die Hälfte dessen, was die Bundesregierung in den vergangenen fünf Jahren als Honorare für externe Berater ausgab und es entspricht einem Viertel der Summe, die die Bundesregierung zwischen 2015 bis 2019 für die Förderung von Forschungsvorhaben in den Bereichen Klimaschutz, Einsparung des Ressourcenverbrauchs in der Wirtschaft und nachhaltige Mobilität ausgegeben hat.

Kleingeld, das allenfalls zum Kleckern reichen wird, aber keinesfalls für wirkliche Investitionen in eine neue Infrastruktur. Zum Vergleich: Allein für Modernisierung des - immerhin bereits vorhandenen - Streckennetzes der Deutschen Bahn stellt die Bundesregierung in den kommenden zehn Jahren 86 Milliarden bereit. Doppelter Betrag in der halben Zeit. Und für die Integration der Menschen, die "noch nicht so lange hier leben" (Angela Merkel) gab die Große Koalition im vergangenen Jahr 23 Milliarden Euro aus - die halbe Summe, allerdings verteilt auf nur ein 19-tel der Zeit, in der die Braunkohlehilfen tröpfeln sollen, die sich dann auch noch auf vier Bundesländer verteilen, die fast ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik einnehmen.

Donnerstag, 5. September 2019

Homöopathischer Hass: Automatisierung der Demokratisierung

Wenn das kein Beweis ist! YouTube habe „im vergangenen Quartal so viele Videos wegen "Hate Speech" löschen müssen wie noch nie“, dräut es auf allen Kanälen, nachdem Googles Videoplattform verkündet hatte, dass man im letzten Quartal mehr als 100.000 Clips entfernt habe. Das sei eine Verfünffachung der aufgeflogenen Hass-Videos gewesen, teilte die Unternehmenschefin Susan Wojcicki mit. Zudem seien 17.000 Youtube-Kanäle wegen Hassinhalten gesperrt worden.

Für jeden Menschen, der in der Schule nicht aufgepasst hat, als der Dreisatz dran war, sind das imponierende Zahlen. Sechs Stellen! Fünf Nullen! Jeder deutsche Leitmedienjournalist steht vor so vielen Nummern gerade. Zumal sie ihm Gelegenheit geben, gute Nachrichten von der vordersten Front im Kampf gegen „Hetze, Hass und Zweifel“ (Klaus Kleber) zu verkünden: Die Zahl der Aufrufe von Videos mit verbotenen Inhalten sei in den vergangenen anderthalb Jahren um 80 Prozent gesunken.

Insgesamt setze die Youtube-Mutter Google nun mehr als 10.000 Mitarbeiter ein, um Inhalte zu löschen, die gegen die Richtlinien der Videoplattform verstoßen. Neben Hassreden und Hasskommentaren würden auch Urheberrechtsverletzungen, Gewalt- und Sexdarstellungen immer öfter unterbunden. Und schon 87 Prozent der insgesamt entfernten neun Millionen Videos, die gefährliche oder zweifelhafte Inhalte hätten, findet ein Algorithmus!

Die Automatisierung der Demokratisierung des Internets, so die gute Kunde, schreitet also vorn. Der Hass verliert, der verfilmte Extremismus gerät in die Defensive.

Wenigstens, so lange der Empfänger der frohen Botschaft bereit ist, als Grundlage der Geschichte das Märchen zu akzeptieren, dass im Grunde genommen das gesamte Internet aus Hassbotschaften besteht, die schrecklichen Verbalgewalt auf jeden ausüben, der leichten Herzens hereinspaziert, um auf der digitalen Blumenwiese zu flanieren. Wer das nicht tut, hat schlechte Chancen, in der Nachricht von den gelöschten 100.000 Hassvideos eine Bestätigung für die These vom allgegenwärtigen Hass im Netz und insbesondere bei Youtube zu sehen.

Denn die Zahlen sprechen ganz eindeutig dagegen: Wenn Youtube 100.000 Videos findet, die angeblich Hate Speech verbreiten, dann ist das nämlich in Wirklichkeit nicht viel, sondern – gemessen an der Gesamtzahl der Videos, die bei Youtube gespeichert sind – eine Menge, die etwa einem Hassvideogesamtanteil von 0.00125 Prozent entspricht. Umgerechnet auf eine 200-Liter-Badewanne liegt der Hassgehalt bei genau fünf Tropfen.

Youtubes Löschaktion betraf jedes 80.000 Video, nicht mehr als ein Kratzer im Lack der verbliebenen Milliarden Filmchen. Dennoch war die Berichterstattung der Medien übereinstimmend nicht einordnend, sondern alarmierend: Von "Rekordzahlen" gelöschter Hassvideos war die Rede und davon, dass Youtube "mehr" Hassvideos lösche. Dass Youtube unter Milliarden Videos nicht einmal mit Hilfe automatisierter Verfahren und Unterstützung von 10.000 Mitarbeitern nicht mehr als 100.000 Hassvideso findet, spricht eigentlich gegen die These von der "Pöbelhölle Internet" (Heribert Prantl). Hier aber wird die vermeintlich hohe Zahl durch gezielte Nicht-Einordnung zum Argumentdass diese imaginäre "Pöbelhölle" tatsächlich existiert.

ZDF-Heldenkino: Das Glück von 2015

Tausende? Natürlich tausende - auch Millionen bestehen aus einzelnen Tausendern und das hat das ZDF zum fünfjährigen Geburtstag der "Flüchtlingskrise" (Seehofer) nun noch einmal klargestellt.

Wie schlimm er hätte ausgehen können, dieser September 2015, das zeigte das nach Motiven wahrer Ereignisse inszenierte Dokudrama “Stunden der Entscheidung“, das noch einmal deutlich machte, dass es in den dramatischen Tagen der Grenzöffnung weder eine "Grenzöffnung" (Barack Obama) noch sonst eine Art Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung der Bundeskanzlerin gegeben hatte, konsequent auf eine "europäische Lösung" (Merkel) zu setzen. 

Das ganze Land, zumindest soweit man habe in der Zeitung lesen können, erinnert sich der später in Ungnade gefallene damalige Innenminister Thomas de Maiziere, habe die Flüchtlinge, die später zu "Flüchtenden" wurden, mit offenen Armen begrüßt. "Zeitungen druckten sogar Buttons, auf denen Refugees welcome stand", sagt de Maiziere, der in der Verfilmung sich selbst spielt, aber mit dem Abstand eines Mannes, der es heute auch nicht besser weiß, wo die damals gefeierte "Grenzöffnung" schon als Begriff zur Identifikation von Nazis dient: Wer diese Vokabel benutzt, ist Sachse, AfD oder zumindest rechtsextremistisch.

Solche Leute gab es seinerzeit noch nicht, nur, so zeigt es der Film, ein hektisch denkende Kanzlerin, die sichtlich keine dicken Bretter bohrte, sondern einzig und allein eine Antwort auf die Frage finden wollte, ob sie die 1000 oder 2000 auf die österreichische Grenze zumarschierenden  Refugees reinlassen müsse, dürfe, wolle oder solle. Es ist Victor Orban, der hier die Rolle des Bösewichts besetzt, ohne selbst aufzutreten, Beate Baumann, die Kanzlerinnenberaterin, fungiert als Stimme der Vernunft, die Sätze sagt wie "geben Sie ihm das Gefühl, dass Sie ihm entgegenkommen, ohne ihm entgegenzukommen".

Der österreichische Kanzler sagt: "Wir müssen Orban aufhalten". Die Kanzlerin, "Angela" genannt, sagt: Davon habe ich noch nichts gehört.  Von "Pistole auf die Brust" ist die Rede und davon, dass "wir uns nicht erpressen lassen". Fast hat man an dieser Stelle schon vergessen, worum es geht: Ein überschaubarer Zug von Menschen, die erkannt haben, dass sie als Masse unaufhaltsam dorthin durchmarschieren können, wo immer sie hinwollen. "Niemand wird uns aufhalten", sagt ein junger Syrer. "Dahinter steckt ein sehr starker Verstand", sagt de Maiziere, er meint aber die Kanzlerin.

Das sei eine entscheidende Führungsfrage, flunkert der Mann, dem es einst gelang, die Sachsen LB zu einem Milliardengrab umzubauen, ohne seiner Karriere damit zu schaden. Die Merkel im Film signalisiert nach außen ebenso drängende Weltgeschichtlichkeit. "Wir müssen eine humanitäre Katastrophe verhindern", spricht sie, ruhelos vom Rücksitz einer Limousine regierend. Im Rückblick ergäbe das nur Sinn, wenn die Ausnahmegenehmigung, 1000 oder 2000 Heranmarschierende aufzunehmen, obwohl sie deutlich sichtbar aus einem sicheren Drittland kommen, schon damals für alle gelten sollte, die noch nachkommen würden.

Das ist stets dementiert worden, die Geschichte wurde immer erzählt als Wiederholung der Maueröffnung von 1989, nur ohne Zettel. Ein paar sollten reinkommen dürfen, damit Orban sie nicht "niederschlagen lässt", wie die Film-Merkel in ihrer blauen Pokemon-Jacke rätselhaft spricht. Doch nicht alle! So hat es jedenfalls der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel verstanden, der deshalb schnell zustimmte. Kein Ding, Angela. Humanität, jaja.  Seehofer dagegen ging nicht ans Telefon, hatte vermutlich keinen Empfang. Der treue Altmaier aber war wunsch- und auftragsgemäß sicher, dass "wir nicht gegen deutsches Recht vertsoßen, wenn wir sie reinlassen - jedenfalls, wenn das eine Ausnahme bleibt".

Blieb es nicht, aber ein Rechtsbruch wurde es trotzdem nicht, weil auch Angela Merkel im Film überhaupt nicht von "Grenzöffnung" spricht, die ein aktives Öffnen erfordert hätte. Sondern einfach prüfen lässt, ob "es denn überhaupt möglich ist, dass wir die Grenzen schließen". Was die Öffnung zu einer Duldungsaktion macht, für die es keiner handlung bedarf, die rechtswidrig hätte sein könne. Peter Altmaier, der in den "Stunden der Entscheidung" (ZDF) als eine Art Bundesverfassungsericht fungiert, antwortet unverblümt: "Ich weiß es nicht." Wer da von Staatsversagen spricht, tut das aus böser Absicht.

Denn was wäre denn die Alternative gewesen? Die Grenzen gar nicht erst nicht zu schließen, sondern nicht zu öffnen, weil sie ja schon offen waren? Horst Seehofer von der Polizei vorführen zu lassen? Das Gutachten über die Rechtmäßigkeit gleich selbst zu schreiben? Und die Presseerklärung mit der Betonung auf dem Wort "Ausnahme" in Granit meißeln?

Das große Glück war, so erzählt es das ZDF in dieser Folge von "Heldenkino", dass Deutschland nicht nur in dieser Nacht, sondern auch in allen folgenden seitdem stets helfen konnte. Wo, bitte, wäre denn die Welt heute, hätten nicht wenigstens diese zwei Millionen von zwei Milliarden Mneschen in Afrika und dem Nahen Osten ein neues Zuhause gefunden?

Als dann endlich authentische Bilder des Mauerfalls von 1989 gegen die Aufnahmen von Selfieszenen der Kanzlerin mit flüchtendenden Syrern geschnitten werden, die auch bloß keinen Pulleffekt auslösten, wie man heute endlich weiß,  ist die Sache entschieden.

Wer bis hierher ausgehalten hat vor dem TV-Gerät, der weint nun vor Rührung. Ohne die Entscheidung Angela Merkels vom 4. September 2015 hätte dieser Film nie gedreht werden können.

Mittwoch, 4. September 2019

Meinungsfreiheit: Sie hat bürgerlich gesagt


Auf einmal fiel dieses Wort. Bürgerlich! Als wäre der Sieg des "freundlichen Sachsen" (Kretschmer) und des Brandenburg mit dem "freundlichen Gesicht" (Woidke) nicht schon belastens genug für die Parteizentralen - gerade mit Blick auf die Wahlen in Thüringen im Oktober - schlich auf einmal das Gespenst einer Normalisierung der neuen Nazis von der AfD durch den Backstagebereich der Politikbühne.

Bürgerlich! Konservativ! Was niemand mehr sein will, weil selbst die CSU sich eher grün als konservativ findet, reklamiert der Binnenseetaucher Alexander Gauland frech nach Strandrecht für sich, obwohl die alte Strandungsordnung im Zuge der Vorbereitung der deutschen Einheit bereits im Juni 1990 geändert worden war.

Doch auch wenn ein Begriff wie "bürgerlich", ehemals Bezeichnung von CDU, CSU und FDP, aufgrund der veränderten politischen Großwetterlage und wegen des Trends zur Pappbecherkaffee-Urbanisierung herrenlos geworden ist, darf ihn sich nach den Vorgaben der EU-Satire-Richtlinie (SatRi) niemand aneignen. Außer, er hat von einem Ehrengericht aus "Zeit", Focus" und Deutschlandfunk eine diesbezügliche Genehmigung erhalten.

Voraussetzung dafür ist ein amtliches Testat, dass der Antragsteller eine "historisch unterscheidbare Vergesellschaftungsform von Mittelschichten" darstellt, in der sich "aufgrund besonderer, mehr oder minder gemeinsamer Interessen ähnliche handlungsleitende Wertorientierungen und soziale Ordnungsvorstellungen ausgebildet" haben, so dass sie "die politische Stabilität eines Landes beeinflusst", wie die neutrale Definition von "bürgerlich" lautet. 

Allein der Umstand, dass es eine eher arglos wirkende MDR-Moderatorin war, die am Wahlabend des blauen Auges eine mögliche Koalition von CDU und AfD eine „bürgerliche“ nannte, zeigt, dass das irrig ist. Sachsen konnte mit seinem extremistischen Votum vom Sonntag ebensowenig wie Brandenburg, das bis dahin hinter seiner freundlichen Maske eine gleichermaßen menschenverachtende Fratze des Bösen verbarg, den erforderlichen Einfluss auf die politische Stabilität nehmen.

Ganz im Gegenteil. Während die renitenten Sachsennazis darauf hofften, mit ihrer undemokratischen Wahlentscheidung ein Erdbeben im politischen Berlin auszulösen, entdeckten die früheren bürgerlichen Parteien und ihre bis dahin opponierenden linken Opponenten im Zuge der geplanten Machtübernahme von Gauland, Kalbitz, Höcke und Urban verschüttet geglaubte Gemeinsamkeiten. Niemand ist mehr Feind seines Feindes, Gegner seines Gegners oder Plänen abgeneigt, mit denen zu koalieren, die sie eben noch selbst als Nazi-Verharmloser enttarnt hatten. Doch nur zusammen lässt sich ein Zerfall der Ordnung verhindern, die Wirtschaft retten und den Menschen ein Morgen bauen, in dem es sich noch lohnt, gegen den Klimawandel zu kämpfen.

Für den bedauerlichen bürgerlichen Ausfall seiner ansonsten so verlässlichen Moderatorin Wiebke Binder hat sich der trimediale MDR-Chefredakteur Torsten Peuker inzwischen in aller Form bei der deutschen Öffentlichkeit, den betroffenen Parteien und allen anderen opfern entschuldigt. Dass die junge Mitarbeiterin eine mögliche Koalition aus CDU und AfD in der ARD-Sondersendung zu den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg als „bürgerlich“ bezeichnet habe, sei ein „Versprecher“ gewesen, „für den wir uns entschuldigen“. Peuker, der am berühmten "Roten Kloster" in Leipzig ausgebildet wurde, versprach, dass ein solcher Ausfall sich nicht wiederholen werden. Der MDR stehe weiterhin für eine "glaubwürdige und transparente Erfüllung unseres Informationsauftrag auch in der konvergenten digitalen Welt".

Von wegen "Kenia": Die Afghanistan-Koalition

Kenias Landesfahne hat eine Farbe zu viel, als dass sie als Namengeber für Koalitionen von CDU, SPD und Grünen herhalten könnte. Afghanistan hingegen liefert im Grundbild exakt, was benötigt wird.

Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien, soll ein seinerzeit recht bekannter Fußballer einmal gesagt haben. Amusement royal: Eine ganze Branche bracht unmittelbar nach Bekanntwerden des Spruches auf, dem geografisch verwirrten Kicker die Unterschiede zwischen den beiden EU-Partnerstaaten zu erläutern. Italien ist nicht Spanien, Madrid liegt hier und nicht dort, während Mailand eben da liegt und nicht hier, Herr Möller.

Eher unverkrampft geht es zu, wenn die Weltbilderklärer der Medienrepublik versuchen, ihrem nur halbgebildeten und ohne wenigstens skizzenhafte Allegorien von jeder Wirklichkeitsbeschreibung überfordertem Publikum die Welle der neuen Notkoalitionen zu beschreiben, die aus Gründen der Stabilität wie der nationalen Sicherheit in diesen Tagen landauf, landab begründet werden müssen. CDU und SPD und Grüne, das ist im Malbuch der Medienbranche "Schwarz", "Rot" und "Grün".

Schwarz-Rot-Grün klingt aber nun leider nach Burschenschaft, Tennissocken mit Streifen oder FC-Augsburg-Trikot, geht also nicht. Folglich taucht das Gespenst der angeblichen "Kenia-Koalition" wieder auf, das zum ersten Mal durchs Land spukte, als im ostdeutschen Armenhaus Sachsen-Anhalt alles, was nicht AfD-oder PDS-Mitglied war, zu einer Landesregierung zusammengeschweißt wurde. Der Name käme, so hieß es, von der kenianischen Landesflagge, die aus eben diesen drei Farben bestehe.

Die vierte, ein strahlendes Weiß, dass die drei anderen säuberlich voneinander trennt (oben) und die kenianische Fahne zu einer ebenso logischen Wahl als Namenspaten für eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen macht wie die palästinensische Flagge, die ebenfalls Schwarz, Rot, grün und Weiß enthält, wurde nicht erwähnt.

Und natürlich auch nicht die bessere Alternative: Afghanistan. Hier finden sich die drei Farben der beteiligten Koalitionsparteien unverfälscht und unverdünnt, sogar die Reihenfolge stimmt. Die Botschaft sowieso: Das Schwarz steht hier ausweislich weltweit anerkannter afghanischer Legenden für die Geschichte als besetztes Land, das Rot für das Blut, das im Kampf für die Unabhängigkeit vergossen wurde, und das Grün für die Hoffnung, dass eines Tages alles besser werden wird.

Passt. Deutsch ist die Flagge zudem, denn der afghanische König Amanullah Khan orientierte sich angeblich am Design der deutschen Fahne, als er bei einem Besuch in Europa im Jahr 1928 beschloss, dass auch sein Land mal wieder einen neuen Farbentwurf für die Landesfahne gebrauchen könne. Die vermeintlichen Kenia-Koalitionen sollten also ehrlicherweise besser Afghanistan-Koalitionen genannt werden - und keine Scheu vor den eher negativen Assoziationen, die dieser Name hervorrufen könnte.

Viel schlimmer als es in Keniaist, kanns doch nicht werden.

Dienstag, 3. September 2019

Doku Deutschland: Rechtsaußenwahl als Absatzkanal

Gesellschaftliche Spaltung vertiefen, Anderswählende ausklammern - das totalitäre Rezept der Rechtsextremismusprofiteure.

Matthias Quent ist ein deutscher Soziologe und Rechtsextremismusforscher, der Bücher schreibt, die "Deutschland rechts außen: Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können" schreibt und selbst fest daran glaubt, dass es bald aus sein wird mit der freiheitlichen Gesellschaft, wenn der Rechtspopulismus sich weiter radikalisiert und immer mehr Menschen im Lande mangels ausreichend lauter Warnungen bei Wahlen ihr Kreuz dort machen, wo Hitler seines hinsetzen würde, lebte er nicht nur noch in der Vorstellungswelt deutscher Medienaktivisten.

Die "Wahlkatastrophe" (Spiegel) in Sachsen und Brandenburg war kaum amtlich, da meldete sich der im thüringischen Jena an der "Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit“ arbeitende Soziologe schon mit "einigen Schlussfolgerungen zur Rechtsaußenwahl" (Quent), die gehalten waren, Demokraten im Osten, aber auch im Westen aufzuschrecken.

Quent nutzt die Inhalts-, Glaubwürdigkeits- und Legitimitätskrise der Parteien des demokratischen Blocks, um unbeirrt von jedem Anflug von Scham Werbung für sein "Bestseller-Buch" "Deutschland rechtsaußen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können" zu machen" (Amazon-Verkaufsrang 2195), indem er einige zutreffende Diagnosen abgibt. Und viele hanebüchene Rückschlüsse - schließlich geht es ihm um Zuspitzung, Anheizung der Konflikte, das Vertiefen gesellschaftlicher Gräben und um Argumente dafür, zum Krieg gegen die aufzurufen, die er im "Kulturkampf gegen die liberale Demokratie" wähnt.

Der Abscheu, mit dem der 33-Jährige auf den Osten und die demokratisch zustandegekommenen Wahlergebnisse dort schaut, ist in jeder Zeile spürbar. Für den Direktor des  "Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft" der Amadeu Antonio Stiftung in Jena sind alle, die in Sachsen oder Thüringen rechts gewählt haben, Nazis, Faschisten und völkische Nationalisten. Niemand dort habe nur aus Protest eine Stimm für die AfD abgegeben, vielmehr, so trommelt der Soziologe in eigener Sache, handele es sich um Stimmen für einen "totalitären Rechtsradikalismus", gegen den nicht Geld und Verständnis, sondern nur ein Cordon sanitaire aus "Abgrenzung, Aufklärung und Haltung" (Quent) helfen werde.

Hass diktiert hier Urteile, die so pauschal sind, dass selbst ein an möglichst hohen Verkaufszahlen seines Buches interessierter Autor für einen Moment vom Zweifel befallen werden müsste, ob es sich bei mehr als 600.000 Sachsen und knapp 300.000 Brandenburgern tatsächlich  um beinharte "Neofaschisten" (Quent) und "Rechtsradikale" handeln kann.


Doch Matthias Quent selbst verrät mit der von ihm verwendeten Parole "¡No pasarán", in welchem Schützengraben er liegt: Erfunden hat diesen Schlachtruf die Kommunistin Dolores Ibárruri Gómez im spanischen Bürgerkrieg. Die stalintreue Propagandistin erarbeitete sich ihren Ruf als unerbittliche Antifaschistin, indem sie ihrem rechten Gegenspieler José Calvo Sotelo im spanischen Parlament zuerst den Tod wünschte. Und in Jubel ausbrach, als dieser durch ein Anschlag revolutionärer Garden endlich ermordet worden war.

In der zeitkritischen Reihe Doku Deutschland" fasst PPQ eine Reihe von sogenannten "Tweets" zusammen, mit denen Matthias Quent am Morgen nach dem Wahltag daranging, seine Werbeagenda für sein Buch nicht nur mit Auftritten in staatlichen Medien, sondern auch mit Alarmgeschrei für seine knapp 6.000 Follower umzusetzen.

Die von Hashtags und Gendersternen durchsetzte Schreibweise wurde der besseren Lesbarkeit wegen leicht korrigiert, der Inhalt blieb unverändert.


  1. Die jahrelange Naivität vieler Demokratinnen rächt sich und zentrale Vorstellungen über den "Rechtspopulismus" werden widerlegt.
  2. An Kalbitz in Brandenburg zeigt sich beispielhaft, wie Rechtsradikale Kränkungen, Unzufriedenheit, Rassismus, Enttäuschung und Wut politisieren - wie einst die NSDAP. Dafür werden sie gewählt.
  3. In Brandenburg und Sachsen hat der völkisch-nationalistische Höcke-Flügel gewonnen. Wer den Flügel als rechtspopulistisch verharmlost, macht sich zum Steigbügelgelhalter von Neofaschisten.
  4. Die Wahlerfolge stärken den "Flügel" bundesweit massiv. Die AfD ist als Gesamtpartei rechtsradikal/rechtsextrem.
  5. Rechtsradikalismus ist eine eigenständige politische Kraft, samt Ideologie und Tradition. Die Entfesselung des seit Jahrzehnten empirisch gemessenen rechtsradikalen Potenzials hält sich selbst am Laufen. Auch ohne "Flüchtlingskrise"
  6. Die Wahlen fanden in einem Diskursklima ohne akute Krise statt, trotzdem erzielt die AfD Spitzenergebnisse.
  7. Themen im Wahlkampf der AfD werden überschätzt. Sie wird nicht als spezifische Ostpartei gewählt, sondern als chauvinistische "Wir-zuerst"-Partei.
  8. Rechtsradikalismus ist nicht monothematisch, sondern totalitär. Er kann Diskurse, bspw. Klima, Wolf, Ostdeutschland (be-) setzen & reaktionär mit Angst und Propaganda füllen. Das spricht gegen die Protestwahlthese.
  9. In Sachsen sind die Rechtsradikalen stärker, obwohl dort die Wirtschaftskraft stärker ist als in Brandenburg. Das widerspricht der Protestwahlthese.
  10. In Sachsen sind die Rechtsradikalen stärker, obwohl dort ein größerer Anteil der Bevölkerung in Großstädten lebt als in Brandenburg. Das widerspricht der Protestwahlthese.
  11. In Sachsen steht die Landesregierung seit vielen Jahren weiter rechts als in Brandenburg. Rechtsradikale profitieren von einer solchen politischen Kultur.
  12. Brandenburg hat eine Antirassismusklausel in der Landesverfassung und Politik, Behörden, Wissenschaft und Zivilgesellschaft wirken häufig vorbildhaft zusammen gegen Rechtsradikalismus.
  13. Das macht nicht alles gut, aber vieles besser, einfacher und stabiler. Und: es schwächt die Rechtsradikalen. Denn wir haben es mit einem Kulturkampf gegen die liberale Demokratie, ihre Institutionen und Modernisierung an sich zu tun. Nicht in erster Linie soziale Konflikte, sondern Wertkonflikte werden ausgetragen.
  14. Soziale und wirtschaftliche Missstände müssen verbessert und Kränkungen bearbeitet werden. Aber nicht gegen die Rechtsradikalen, sondern für Gerechtigkeit und Menschenwürde.
  15. Langfristig helfen Abgrenzung, Aufklärung und Haltung mehr als Geld und andere Zugeständnisse an Regionen mit hohen AfD-Stimmenanteilen.

Nach der Wahlkatastrophe*: Der böse Bäcker von Vidaloca


Der chilenische Nationaldichter José Muñoz-Muller hat Zeit seines Lebens nicht nur großartige Romane wie "Sieben Messer aus Seide" und drastische Abrechnungen mit dem Pinochet- und dem Kennedy-Regime wie "5. Mai vormittags" und "Himmel hinterm Berg" geschrieben, sondern sich stets auch eine Liebe zur kleinen Form bewahrt. In seinem Aufsatzband "Steinwärts" etwa versammelte der begnadete Satzsetzer und Wortschmied gleich mehrere kurze Sagen aus seiner alten Heimat Österreich, die seine Eltern verlassen hatten, als die Lage dort unerträglich zu werden drohte.

In Form von Kurzgeschichten, von denen er selbst nicht müde wurde zu betonen, dass nicht er, sondern das wahre Leben sie geschrieben habe, verfasste Muñoz-Muller aus die Geschichte "Der böse Bäcker von Vidaloca", die in Südamerika jedes Kind kennt. In Europa hingegen ist die faszinierende und in Teilen auch brutal an die Schwächen und Folgen menschlicher Freiheit gemahnende Story kaum bekannt. Der einfach Grund dafür ist, dass Diktator Pinochet in Chile besonders harte Urheberrechtsgesetze erlassen lassen hatte, um den freien Fluß von Informationen aus seinem Land möglichst zu unterbinden. Da das Gesamtwerk von José Muñoz-Muller trotz dessen doppelter Staatsbürgerschaft zumindest teilweise unter diese sogenannten Artikel-13-Regelungen fällt, darf auch die frappierende Geschichte eines knappen halben Dutzends von Bäckern nicht zitiert, sondern nur nacherzählt werden.

Ein Wagnis, das PPQ aber aufgrund der aktuellen Brisanz der Geschichte eingehen muss.


Wie Muñoz-Muller berichtet, trugen sich die von ihm nachfolgend geschilderten Ereignisse im Jahr 1923 in der Steiermark zu, der Wahlchilene aber entschloss sich, sie als chilenisches Märchen zu erzählen. Wohl, wie sein deutscher Biograf, der Unternehmer Ronny Kustenberg, vermutet, auch naheliegenden Marketinggründen.

Wie auch immer: Gegenstand des nur schmale 17 Seiten umfassenden Melodrams sind vier - später fünf beziehungsweise sechs - überwiegend alteingesessene Bäckerhandwerker, denen eine plötzlich einbrechende Wirtschaftskrise das Geschäft verhagelt. Jahrzehntelang hatten Guillermo Deistler, Juan Pérez González, Luis Alberto, Francisca Pérez Duarte und der erst später nach Villaloca gezogene Orlando Lübbert Bolocco gut von Brot und Brötchen und einigen schlichten Kuchen leben können. Auf einmal aber fehlte allen immer wieder Geld in der Kasse, weil Kundinnen und Kunden beschlossen hatten, gesünder zu leben, weniger zu essen und ihnen das Geld auch nicht mehr so locker saß.

Guillermo Deistler, ein glücklich verheirateter Feingeist mit stark ausgeprägtem Geschäftssinn, soll Muñoz-Mullers Angaben zufolge der erste der Bäcker des hauptstadtnahen 6000-Einwohner-Städtchens gewesen sein, der die Nerven verlor. Deistler, klein und ein wenig feist, aber mit geschickten Händen ausgestattet, veränderte sein Angebot, denn er hatte bemerkt, dass der wie er im örtlichen Bäckerchor singende Orlando Lübbert Bolocco wenig bis gar nicht vom Brotboykott der Bürger betroffen war. Bolocco, ausgewachsen im großstädtischen Santiago, begriff sich als Feinbäcker und er buck auch so: Kleine Teilchen, kleine Brötchen, viele Plätzchen.

Der Tortenaufschwung


Deistler setzte noch einen drauf und nun auf prächtige Torten, Obstkuchen und gefüllten Plunder. Mit Erfolg, wie Muñoz-Muller erzählt, der ein leider nachschiebt. Denn anegsichts der Schlangen vor dem Nachbargeschäft steuerten auch Luis Alberto und Francisca Pérez Duarte um. Brot flog aus dem Angebot, weiße weiche Frühstücksbrötchen ebenso. Stattdessen schoben beide nun jeden Tag vegane Muffins in den Ofen, Krapfen voller gerecht gezüchteter Blaubeeren, klimaneutrale Weckchen und Kipferl und liebvoll gestaltete Keksvariationen. Die Menschen in Vilaloca schienen glücklich, so glücklich, dass auch der bekennende Traditionalist Juan Pérez González schließlich umschwenkte. Statt siebenerlei Brot, Weckchen, Laugen, Brezeln und Brötchen bot auch der alteingesessene Meister, der älteste aller Bäcker von Vilaloca, nun Konditorware für den Nachmittags-Kaffee an.

Es dauerte eine Zeit, und es waren schöne Jahre, schreibt José Muñoz-Muller in süßer Erinnerung an all die leckeren Backwaren, die Kuchen und Torten, Krapfen, Plunder und Teilchen, die Tag für Tag über die fünf Ladentische gingen. Wäre nicht dieser eine Tag gewesen, als das, was als Bäckerkonsens von Vilaloca in die Geschichtsbücher einzugehen schien, in einem Drama zersplitterte, das in der Geschichte der Fein- und Grobbäckerei seinesgleichen sucht: Matías Martin Alonso tauchte ein nicht mehr ganz junger, nicht allzu hübscher, aber zu allen entschlossener Mann im Ort auf, der binnen von nur zwei Wochen und mit Hilfe auswärtiger Handwerker eine sechste Bäckerei mitten in einer belebten Innenstadtstraße eröffnete.

Plötzlich wieder braunes Brot


"Braunes Brot" und "Brötchen, wie man sie kennt" habe der Newcomer in sein Schaufenster geschrieben, schildert Muñoz-Muller. Und mehr habe es in seiner kleinen, aber köstlich duftenden Backstube auch nicht zu kaufen gegeben. Die Platzhirsche Deistler, González, Alberto und Bolocco kamen selbst vorbeigeschlendert, um den Neuen zu beschnuppern. Francisca Pérez Duarte, eine Frau, die weit mehr als Mehlstaub um sich verbreitete, schickte ihren Erstgeborenen und ließ sich jedes Detail berichten. Vergebens. Obwohl alle fünf alteingeführten Bäcker von Vidaloca - sie alle nannten sich inzwischen "Konditor" - überzeugt waren, dass das Angebot des Neuen dumm, primitiv und keineswegs bekömmlich sei, schienen die einfachen Kundern das anders zu sehen. Sie kauften Brot, sie kauften Brötchen, sie schlugen sich, schreibt Muñoz-Muller, den Magen oft so voll, dass kein Platz mehr darin blieb für Teilchen und Süßes vom veganen Feinbackofen.

Ansprache nicht perfekt


Luis Alberto, wenig begnadeter Lieblingsbäcker des Mittelstandes und deshalb immer etwas teurer, gab als erster auf. Juan Pérez González, der lange Hauptlieferant derer gewesen war, die mit Stullenbüchsen zum Arbeiten in die Fabrik gingen, folgte. Orlando Lübbert Bolocco, der vor allem den Osten der Stadt abgefüttert hatte, musste die Segel streichen, weil seine Backstube nur gemietet war. Bei Martin Alonso wurden mehrfach die Schaufensterscheiben eingeworfen, es kursierten auch Flugblätter, auf denen Unbekannte forderten, man möge nicht mehr beim "Braunbäcker" kaufen.

Aber alles vergeblich. Guillermo Deistler und Francisca Pérez Duarte hielten noch eine ganze Zeit durch, nachdem sie geheiratet und ihre Bäckereien zusammengelegt hatten. Es gelingt gerade nicht, "einen Teil der Menschen an uns zu binden, die Ansprache ist offenkundig nicht perfekt", klagte Deistler. Pérez Duarte dagegen kündigte eine baldigst bevorstehende Erneuerung der gesamten Backstube, des Sortiments und der Keks- und Plätzchenrezepturen an. Süßes könne noch süßer werden, wenn genug Torten da seien, benötige niemand Brötchen oder Brot.

Der "böse Bäcker von Vidaloca", wie die Berufskollegen aus dem Bäckerchor den stets lächelnden und lecker nach frischem Brotteig riechenden Matías Martin Alonso längst nicht mehr nur unter sich nannten, werde jedenfalls nicht siegen. "Insofern ist es wichtig, dass wir deutlich machen, dass wir gerade die im Blick haben, die jeden Tag hart arbeiten, aber eben auch nur kleine Einkommen haben und trotzdem Kuchen essen wollen."

*"Der Spiegel"

Montag, 2. September 2019

Wahl der Qual: Das Erfolgsgeheimnis der neuen Nazis


Was die Rechten in Ostdeutschland so erfolgreich macht. Eine kleine Psychoanalyse der westdeutschen Medien.


Viele haben es versucht, bisher aber ist es noch niemandem abschließend gelungen, die Frage zu klären, wie es westdeutschen Medien, die in den auch nach 30 Jahren noch immer "neuen" Bundesländern überhaupt nicht gelesen werden, Millionen Menschen im Osten darauf zu bringen, eine Partei zu wählen, die ihnen ihre gerade errungene Freiheit wegnehmen will.

Svenja Prantl stammt unter anderem aus Lübeck, ihr Vater Wehrmachtsmajor und später Beamter in der Bundeszentrale für politische Bildung, sie ist nicht verwandt mit ihrem früher recht bekannten Namensvetter und sie lebt derzeit im abgehängten Hungergürtel um Eisenhüttenstadt. In ihrer Kolumne erklärt heute einmal eine Westdeutsche, wie der Osten so tickt.

Gerade in den neuen Ländern warten Millionen darauf, zu erfahren, wie sie eine Erfahrung von Eroberung, Entwertung und Verwertung zu Groll und Aversion, Verdruss und Hass führen konnte.


Von PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl

Jetzt, nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, ist der Jammer der von immer. Wie konnte nur, was wollen die denn, ich glaubs ja nicht, sind die denn blöd! Es werden rationale Erklärungen gesucht, es wird erinnert an die enormen Anstrengungen in den Schreibmaschinengewehrstellungen der großen deutschen Medien, die Übernahme der ehemaligen DDR als Gnadenakt darzustellen, für den die kaum mehr nutzbaren Menschen dort äußerst dankbar zu sein hätten. Vom "Spiegel"-Titelbild "Deutsche gegen Deutsche" von 1992 führt ein gerade Weg zur Kapitulationserklärung  "So isser, der Ossi", die eben erst für Furore sorgte.

Auf beiden Seiten der einstigen Mauer ist noch immer Land in Sicht, doch statt sich mit der neuen Realität abzufinden, dass im Osten Menschen leben, die ihre eigenen Wertvorstellungen, Ideale und Träume mitgebracht haben, arbeiten sich Leitmedien von ARD und ZDF über SZ, Zeit, Spiegel und taz unermüdlich daran ab, die Eigenarten von Sachsen, Thüringern, Brandenburgern und Mecklenburgern zu beklagen.

Aus dem Westen kamen, je nach Schätzung, 75 bis 90 Prozent der neuen Ostelite, aus dem Westen kommen seit 1990 aber sogar 100 Prozent aller Welterklärungen, soziologischen Befunde und politischen Rezepte gegen die Sturheit des gemeinen Ossis. Mit demselben Ergebnis, das schon die DDR-Propaganda zeitigte: Übler, schädlicher Trotz verführt die Bürgerinnen und Bürger dazu, genau das Gegenteil von dem zu glauben und zu tun, was ihnen  Vorkämpfer wie mit geschätzter Kollege Georg Restle, wie Dunya Hajali, Heribert Prantl und Claas Relotius zu unternehmen raten.

Das erstaunt, denn  die publizistische Eroberung der Ostgebiete folgte nicht nur dem Standardplan jedes guten Putschgenerals, zuerst einmal Radio- und Fernsehsender nebst aller Zeitungsredaktionen und Druckereien zu besetzen, er war und ist darüberhinaus auch das wohl monumentalste Programm einer Umerziehungkampagne seit der Übernahme der gesamten Publizistik in Ostdeutschland durch sowjetische Ideologen.

Der Kalte Krieg, in dem diese kämpften, endete glücklich, ohne in einen heißen zu münden. Die Niederlage, die der Osten erlitt, fühlt sich für die Menschen zweiter Klasse dort, überdurchschnittlich oft ohne Wohneigentum, ohne Geld- oder Aktienvermögen und ohne Aussicht auf ein reiches Erbe, immer noch an, als werde ihnen der Kakao, durch den ihre Eltern gezogen wurden, nun auch noch zum Trinken angeboten.

Ein Prost auf den Mauerfall, den sich der aufgeklärte Westen zuallererst zuschreibt. Die Wirtschaftskrise, in der er damals gerade steckte, löste sich durch eifrigen Neukunden aus dem Osten auf so wie es später Polen, Griechen und Portugiesen waren, die die westdeutsche Überproduktionskrise auffingen, indem sie Schulden machten, um ihrem Gläubiger dessen waren abkaufen zu können. Warum nur, warum fragt der besorgte Kuponschneider dieser Entwicklung, geruhsam im Liegestuhl in seinem Ferienhaus in der Provence, warum nur sind die Brüder und Schwestern in Ostdeutschland so undankbar, populistisch oder gar rechtsradikal?

Die Mehrheitsgesellschaft der Medien von Hamburg über Köln, Stuttgart, Düsseldorf und München nimmt entgeistert zur Kenntnis, dass da, wo nicht nur Konrad Adenauer die asiatische Steppe verortete, die AfD zur Volkspartei aufgestiegen ist. Je mehr, desto drastischer die Ostexperten im Westen vor ihr warnen.


Dreißig Jahre Einheit haben eine immer gültige stereotype Betrachtung "des Ostens" als fremdem Land voller unlösbarer Rätsel geschaffen. "Die Angst der Westdeutschen vor der AfD hat dazu geführt, dass 14 Millionen Individuen mit unterschiedlichen Biografien, politischen Ansichten und Salären wieder als ein Kollektiv verstanden werden", schreibt der "Tagesspiegel", ein Organ des Bundesbürgertums alter Prägung, das einerseits Erinnerungen an eine Bundesrepublik pflegt, die so kuschelwarm und lieblich war wie es sie nie gab. Andererseits aber den Osten bekämpft "als Dunkeldeutschland, das rechten Rattenfängern hinterherläuft".

"Was die Rechten im Osten so erfolgreich macht" (Tagesspiegel), ist genau das. Medien im Westen, das heißt: alle Medien, führen Debatten mit sich selbst aufgrund von Erkenntnissen, die sie auf expeditionsartigen Exotikreisen ins Kampfgebiet gewonnen haben. Ein moralisierender Grundton schwingt immer mit, es sind Berichte von Erziehungsberechtigen über ihre Schutzbefohlenen, durchwirkt nicht von absichtsvoll verbreiteten Unwahrheiten, sondern vom Überlegenheitsgefühl der Ortsansässigen was die Orientierung im Raum betrifft.

Die Ostdeutschen rächen sich mit Verachtung, sie verweigern den Glauben an das, was Westdeutsche ihnen über Ostdeutsche berichten und schreiben bei jeder Wahl Denkzettel. Die Unwucht der Debatte darüber - die einen sind Sender, die anderen ausschließlich Empfänger - beschreibt am besten, dass da nichts Neues ist, im Westen: Sie endet in dem Moment, in dem der Adressat im Osten abschaltet.

Weiter so: Volksabstimmung im Jammertal

Um Inhalte ging es kaum, die Wahlen in Sachsen und Brandenburgverwandelten sich in eine Volksabstimmung über die Macht der AfD.
Es war dann keine Wahl im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Volksabstimmung über die eine Frage: "Wie stark wird die AfD?" (FAZ). Vom Außenminister über die nie demokratisch gewählten Lokalgrößen bis in die demokratische Mitte einer Mediengesellschaft, die keine Ränder mehr hat, trieb die Sorge vor dem Erstarken von rechts das Land um, sofern es im Westen lag.

Der Sänger Sebastian Krumbiegel warnte vor einer Machtübernahme der Nazis und dem Ausbruch eines neuen Zweiten Weltkrieges. Für die  Meinungsfreiheitsschützer aus dem Kahane-Kommando war Hitler ein Thema. Der Wir-sind-mehr-Sänger Felix Brummer drohte gar, aus Nazi-Chemnitz wegzuziehen, wenn falsch gewählt werde. Und Heiko Maas, längst eine Art deutscher Mahnminister, rief angesichts der "drohenden Wahlen" (Bild) in Brandenburg und Sachsen noch in allerletzter Minute zu den Waffen Urnen: "Wir, die wir eine soziale und offene Gesellschaft des gegenseitigen Respekts wollen, sind in der Mehrheit", schrieb er. Es komme nun "darauf an, das geltend zu machen".

Urnengang in Dunkeldeutschland


Denn das war die Frage, die dieser Urnengang in Dunkeldeutschland allein zu beantworten hatte: Gewinnen die? Oder gewinnen "wir" (Maas)? Triumphiert das Gute, indem es die AfD mit dem nur zweitbesten Wahlergebnis hinter der CDU in Sachsen und der SPD in Brandenburg beschämt? Oder dürfen Klimawandelleugner, Greta-Kritiker, Schulpflichtverfechter, Dieselfahrer und im Zuge des ostdeutschen Elitenaustauschs aus dem Westen eingewanderte Nazifunktionäre sich über einen Gesamtsieg über die demokratischen Parteien freuen?

Die oder wir, alle gegen einen. Hauptsache, es reicht nochmal für irgendeine Koalition ohne die Faschisten. Klarer waren die Alternativen vor noch keiner Wahl sichtbar. Im demokratischen Lager, zu dem in den Stunden der großen Not neben CDU, SPD, FDP und den erst Ende der 90er Jahre aufgenommenen Grünen nun endlich auch die umbenannte SED sich rechnen darf, wurde nicht einmal mehr der Anschein erweckt, einer Wahl zu einem Landtag müsse ein Ideenwettstreit um konkrete politische Konzepte vorausgehen.

Eine Wahl gegen den braunen Popanz


Stattdessen konzentrierte sich alles auf den Kampf gegen den braunen Popanz. Grüne und Linke führten ihn schrill, die SPD im Keller der verschwundenen Wahrnehmbarkeit und die CDU versuchte, durch die Übernahme der  maaslosen Forderungen von Wutbürgern, ein Bein ins Lager ihrer früheren Stammwähler zu bekommen. Am Wahlabend dann das Erwachen: Auf minus 21 bis 22 Prozent summieren sich die Verluste der Parteien des demokratischen Blocks. Die SPD stürzt ab, die CDU verliert, die seit Jahren perspektivlose Linke halbiert ihren Stimmanteil und die Grünen wachen unsanft aus dem Traum auf, direkt zu einer Klimadiktatur zu marschieren. Die schönen Umfragen, sie waren alle sowas von falsch!

Die Parteizentralen haben selbstverständlich vorgesorgt. Mit Hilfe der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) sind in den Tagen vor dem Urnengang Spechzettel entworfen worden, an denen die Parteiführerinnen und -führer sich am Abend festhalten können.

Die CDU erklärt sich also wie geplant mit Blick auf Sachsen zum Gesamtsieger, die SPD verweist auf ihren Sieg in Brandenburg. Die Grünen, die ihren nach wie vor gültigen ostdeutschen Namenszusatz "Bündnis 90" inzwischen zu führen grundsätzlich verweigern, haben die Anweisung, stets zu erklären, dass der Klimawandel das Thema sei, das Sachsen und Brandenburgern am meisten auf den Nägeln gebrannt habe. Was der grüne General nicht sagt: Die AfD ist in Sachsen nun stärker als SPD, Linke und seine Partei zusammen. Klimawandel?

Die Linken schütteln den Kopf, sie haben keine Spickzettel bekommen. Die FDP, die sich nach 2015 im Dschungel zwischen Moralität und Erinnerung an die Marktwirtschaft verlorengegangen ist, sitzt noch einmal mit am Tisch. Sie würden eines Tages wiederkommen, sagt die junge Frau, die in der Männerrunde der Parteigenerale hockt und die Frauenquote auf immerhin 14 Prozent hochtreibt. Das ist knapp die Hälfte dessen, was die am Tisch versammelten Parteien dem Leben draußen verschrieben haben.

Sieger, die zweistellig verlieren


Alle sind wieder Sieger, alle haben gleichzeitig eine "Botschaft" gehört, die ihnen der Wähler gesendet hat. Weiterregieren sollen sie, eine "stabile Regierung bilden", wie Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt sagt, der einer solchen Notkoalition aus Schwarz, Rot und Grün seit drei Jahren vorsitzt. Das Magdeburger Modell, es wird nun eins auch für Potsdam und Dresden, denn es bleiben nirgendwo mehr andere Machtkonstellationen.

So siegen die Verlierer weiter: 76,4 Prozent der Stimmen hatten CDU, SPD, Linke und Grüne 2014 in Sachsen geholt, sogar 79,7 Prozent in Brandenburg. Geblieben sind den staatstragenden politischen Formationen davon fünf Jahre später noch 62,2 Prozent in Brandenburg und sogar nur 58,6 Prozent in Sachsen.

In Brandenburg haben die demokratischen Parteien damit mehr als jeden fünften ihrer ehemaligen Wähler verloren, in Sachsen sogar jeden vierten.

"Ein blaues Auge", sagt Tina Hassel in der ARD. Immerhin ist das wichtigste Ziel erreicht: Die AfD kann nun erst bei der nächsten Wahl stärkste Partei werden.

Sonntag, 1. September 2019

Zitate zur Zeit: Demokratie im Osten noch nicht angekommen


Die Menschen sind da, aber die Demokratie noch nicht, findet die sächsische Kunstministerin Eva-Maria Stange. Sie selbst ist damit leider nun demokratisch gewählt.

Mit einer Rücktrittsankündigung wird im Laufe des Tages gerechnet.

Demokratiebremse: Ein Schutzmechanismus für Ostdeutschland

Erst der Trump, dann Gauland, die Petry, Putin, Salvini, Johnson und nun auch noch Landtagswahlen im Osten. Geht das gut? Kann das gutgehen? Obwohl die letzten völlig unabhängigen Umfragen einen Ausgang prognostizieren, nach dem doch noch einmal alles gut werden könnte in Sachsen, geht der Medienforscher und Demokratieexperte Hans Achtelbuscher davon aus, dass es grundlegender Änderungen im demokratischen System Deutschlands braucht, um die Demokratie dauerhaft wehrhaft zu halten.

"Wo Menschen nachgewiesenermaßen die Reife fehlt, in eigener Sache zu entscheiden", sagt der Forscher vom am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung, "muss ein Treuhändermodell zum Tragen kommen". Im Mittelpunkt jeder Wahl müsse das Ergebnis stehen, das auch nicht beeinflusst sein dürfe von anti-demokratischen Regungen. "Wir wollen doch weder amerikanische noch italienische Verhältnisse", glaubt Achtelbuscher.

Fehlende demokratische Reife im Osten


Mit einer sogenannten "Demokratiebremse", die Achtelbuschers Team gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) erarbeitet hat, sei es möglich, noch unerfahrene Wählerinnen und Wählen behutsam an ihre verantwortungsvollen Aufgaben in einer demokratisch verfassten Republik heranzuführen. Achtelbuscher, der in der Vergangenheit zu Phänomenen wie dem Themensterben in den deutschen Medien, regierungsamtlichen Sprachregelungsmechanismen und dem Einfluss subkutaner Wünsche auf die berichterstattete Realität geforscht hat, sieht gerade im Osten, der erst von Hitler und dann von den Russen unterdrückt worden sei, großen Bedarf für demokratische Nachhilfe. "Wählen sollte nur dürfen, wer wählen kann", sagt er. Es sei schließlich "niemandem geholfen, wenn die Ergebnisse einer Wahl nicht hilfreich sind, sondern die Stabilität gefährden".

Gerade in einer Zeit, in der ein wirtschaftlicher Abschwung trotz der seit Jahren erfolgreichen Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank nicht mehr ausgeschlossen werden könne, komme es darauf an, entschiedene Maßnahmen zum Schutz von Demokratie und Meinungsfreiheit zu treffen, sagt Hans Achtelbuscher. "was wir brauchen, sind Leitplanken für den demokratischen Prozess nicht nur auf der Seite der Parteien, sondern auch auf der Seite der Wählerinnen und Wähler."

Achtelbuschers Treuhand-Modell setzt nach dem Vorbild der nach der Befreiung der DDR vom stalinistischen Joch so überaus erfolgreichen DDR-Treuhand dort an, wo verunsicherte Wähler, ängstliche Sachsen und verführte Abgehängte heute versucht sind, Schaden anzurichten, indem sie ungeachtet staatlicher Warnungen durch unabhängige Medien ihre Stimme Parteien geben, die der Gemeinschaft nicht guttun.

Nachweis der Wahlbefähigung


Achtelbuscher will das ändern. "Es geht darum, vor einer Stimmabgabe nicht nur die Wahlberechtigung, sondern auch die Wahlbefähigung nachzuweisen", sagt der 49-jährige Forscher, der nach dem erfolgreichen Mauerfall als einer der ersten erfahrenen Demokratiespezialisten aus dem alten Teil Deutschlands in den neuen ging, um dort beim Aufbau der Gesellschaft zu helfen. Zur Wahlbefähigung gehörten Kenntnisse etwa der nicht verbotenen Strophe der Nationalhymne, wichtige Daten zur Besetzung der höchsten Gerichte und abrufbereite Informationen über grundlegende demokratische Prozesse, ist Achtelbuscher sicher.

Lange habe er geglaubt, der Osten sei auf einem guten Weg, sagt er heute, fast 30 Jahre später. "Aber die beunruhigenden aktuellen Tendenzen zeigen, dass wir hier nicht blauäugig sein dürfen, wenn wir nicht eines Tages in einer braunen Diktatur aufwachen wollen."

Die neu konzipierte "Demokratiebremse", an der auch BWHF-Chef Rainald Schawidow persönlich mitgedrechselt hatte, greift hier vorbeugend ein: Wer strafbare Inhalte denkt, etwa hasserfüllte Beleidigungen, Volksverhetzung und Gewaltsehnsüchte, aber auch Zweifel am grundsätzlichen Regierungskurs offenbart oder Bildungslücken im Bereich, welches Ministerium gerade von welchem Minister ganz hervorragend geführt wird, der muss sich danach vor jeder Stimmabgabe fragen lassen. Und riskiert, als noch nicht demokratietauglich oder sogar als Demokratiefeind von der passiven Wahl ausgeschlossen zu werden, bis Besserung eintritt.

Das neue Demokratiedurchsetzungsgesetz (DemDG)


Das Demokratiedurchsetzungsgesetz (DemDG), das Achtelbuschers Team dazu aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse vorbereitet hat, droht anders als das vielkritisierte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) weder mit Strafen noch mit der Löschung von schädlichen Inhalten. "Wir setzen ganz auf Selbsterkenntnis und einen Lernprozess", beschreibt Achtelbuscher. Der Staat überlasse es seinen Bürgern, sich auch gedanklich an Recht und Ordnung zu orientieren. Das Gesetz müsse, konsequent von jedem Bürger umgesetzt, auch nicht dazu führen, dass weniger Menschen an Wahlen teilnähmen. "Jeder kann sich selbst die Befähigung verschaffen, indem er seine innere Einstellung entsprechend ausrichtet."

Für die anstehende Landtagswahl in Sachsen, wo Wählerinnen und Wähler als besonders schwierig gelten, kommt die Initiative der Medien- und Demokratieforscher zu spät, doch schon bei der nächsten Bundestagswahl könnten vorerst experimentell Sonderwahlgebiete in ostdeutschen Brennpunktkreisen an der Straße der Gewalt ausgewiesen werden, in denen Menschen mit Wahlabsicht vor der Stimmabgabe einen Wahlbefähigungsnachweis erbringen müssen.

Auch auf Bundesebene tut sich was: Am Wochenende wurde bekannt, dass das BKA eine "Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität" plant. Die hier gespeicherten Daten könnten per Abgleich mit dem Wählerregister zum Wahlausschluss führen, bis die jeweiligen Urheber über eine Nachschulung bewiesen haben, dass sie ihren Fehler eingesehen und den festen Willen entwickelt haben, beim weiteren Aufbau der Gesellschaft konstruktiv mitzuwirken.