Samstag, 7. Mai 2011

Fantasien von der Terrorfront

Die Fakten sind unbekannt, die Umstände aber weitgehend übersichtlich. Zwei Dutzend von Obamas allerbesten Kriegern stiegen nachts um halb zwei aus zwei Hubschraubern über dem Grundstück von Terrorchef Osama Bin Laden ab, ein "Leibwächter" (dpa), der vielleicht auch nur ein "Kurier" (Der Spiegel) war, eröffnete das Feuer, wurde aber kurzerhand erschossen. Nach Eindringen der Elitesoldaten ins Schlafzimmer des Terrorchefs weigert der sich durch unterlassen, die Hände zu heben. Stattdessen macht er eine "bedrohliche Bewegung". Und wird daraufhin mit zwei Schüssen niedergestreckt, nachdem sich seine Frau den stürmenden Navy Seals noch kurz entgegengeworfen hat.

So kann es gewesen sein. Aber auch anders. Es wäre selbstverständlich gut möglich, die Abläufe auf Wahrscheinlichkeit und innere Logik abzuklopfen. Deutsche Medien allerdings bevorzugen nach einer Woche mit täglich neuen Räuberpistolen aus der "Luxusvilla" ("Stern"), die selbst in den ostdeutschen Elendsmetropolen Bautzen und Warin wegen Baufälligkeit vor dem Abriss gestanden hätte, die Fortsetzung der frei flottierenden Fantasien von der Terrorfront.

Als Zeugin gerufen wird diesmal Frau Amal Ahmed Abdulfattah Bin Laden, "die den Sturmangriff mit einer Schusswunde im Bein überlebte", wie die Hamburger Morgenpost derzeit gerade sicher weiß. Frau Bin Laden habe der pakistanischen Zeitung "Dawn" zufolge ausgesagt, dass sie sich gerade mit ihrem Mann ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, als die ersten Schüsse fielen. Das Schlafzimmer, soweit stimmen alle Angaben bisher überein, befand sich im dritten Stock der "Villa". Der Terrorchef "habe noch nach seiner Kalaschnikow greifen wollen", übersetzt die "Morgenpost" den Original-Dawn-Satz "before Osama could reach out for his Kalashnikov" (bevor Osama seine Kalaschnikow erreichen konnte) in einem Anfall von Gedankenrückübertragung. Dann aber seien schon die US-Soldaten in das Zimmer gestürmt.

Natürlich stützt "diese Aussage die Version der US-Regierung, Bin Laden habe verdächtige Bewegungen gemacht und sei daraufhin erschossen worden", wie die "Morgenpost" gestützt auf die mit viel Gestaltungswillen selbstgemachte Übersetzung festlegt. Doch wie stimmig ist die Behauptung? Osama konnte nicht so schnell an seine Kalaschnikow gelangen, wie es die Einsatzkräfte schafften, unter - zumindest kurzzeitigem - Abwehrfeuer im Hof zu landen und - sich dabei gegenseitig Deckung gebend - vom Landplatz hinauf in den dritten Stock zu laufen, während sie unterwegs noch zwei Kuriere/Leibwächter und einen Sohn des Terrorfürsten erschossen, wie der "Focus" in einer Zwischenbilanz festhält.

"Die anderen Kommandosoldaten stürmen das Haupthaus und durchkämmen es systematisch", heißt es da. "Stürmen" steht für schnell, dürfte also vielleiht in den Bereich von etwa 12 Sekunden kommen, die professionelle Treppenläufer für 25 Stufen benötigen könnten. "Durchkämmen" aber macht dieses Tempo zweifelhaft: wer stürmt, durchkämmt nicht, wer durchkämmt, kann nicht stürmen.

Bin Laden, auf neuen Videos mit von tiefem Schweigen unterlegten Jugendbildern Bin Ladens, die das Weiße Haus eben veröffentlicht hat, wirkt der träge vor einer Echtholz-Schrankwand agierende Terrorprophet zwar nicht eben quick und wach. Einer der Filme (Video unten) zeige "den alt anmutenden Al-Qaida-Chef mit grauem Haar und Bart", schreibt die "Welt" gleichlautend mit "Spiegel" und allen anderen. Gebeugt sitze der Terrorist "mit einer Decke über den Schultern und einer Strickkappe auf dem Kopf vor dem Fernseher", Mit einer Fernbedienung in der Hand betrachte er seine eigenen Videoclips, während er gelegentlich nickend vor- und zurückwippe - so, schreibt die "Welt", habe der Topterrorist offenbar "bis zuletzt die Organisation al-Qaida strategisch geführt"

Nur kämpfen konnte der mann, der nach früheren Bilddokumenten noch nie hatte schießen können, nicht mehr. Es spricht nichts dagegen, dass es ihm trotz hinderlichem Langkaftan und Schlafzimmerblick gelungen sein müsste, eine selbst am anderen Zimmerende lehnende Kalaschnikow innerhalb von zehn oder zwölf Sekunden zu greifen. Zumal "ein Sohn Bin Ladens" nach dem "Focus"-Protokoll erschossen wird, "als er die Treppe hinunter auf die Soldaten zu rennt" - was diese zumindest für zwei, drei weitere Sekunden gehindert haben sollte, die Treppe hinaufzulaufen.

Doch in Wirklichkeit stand Osama Bin Laden, der Weltfeind Nummer 1, gekleidet in einem Schlafsack, in dem 500 Euro und zwei Telefonnummern eingenäht waren, diese seine letzten 15 Sekunden wie gelähmt in seinem Schlafzimmer. Im Dunkeln, denn das Licht, sagt seine Frau, habe man eben gelöscht gehabt, als die ersten schüsse fielen. Fünf Jahre hat er hier verbracht, in einem heruntergekommenen Schnellbau, mit einem ummauerten Mini-Auslauf im dritten Stock, mit Blick auf die Gipfel nur der höchsten Berge ringsherum. Bin laden hat gelebt, ohne vor die Tür zu gehen, er ist grau geworden und fleischig im Gesicht, er hat keinen Plasmafernseher und kein Internet, keine Spielkonsole und keine "Fernsehleitungen", wie die "Welt" schreibt. Der beste Anschlag, der ihm jetzt noch einfällt, ist ein Attentat auf Reisezüge, wie es die Bahn in Deutschland aller paar Monate selbst begeht.

Osama Bin Laden weiß, er ist ein Terrorist von gestern, ein Mann ohne Zukunft, der nicht einmal mehr vor der Videokamera überzeugen kann.

Hat er sich noch von Amal verabschiedet? Gab es einen letzten Kuss? Ein "schau mir in die Augen, Kleines"? Oder gar wirklich ein "Liebling, ich überlege noch, ob ich nach der Kalaschnikow greife"? Taucher des pakistanischen Geheimdienstes suchen momentan nach der Blackbox aus dem Verführerhauptquartier.

4 Kommentare:

daniel hat gesagt…

Millionärssohn? Pffff ... und bei uns hat jeder H4er einen energiesparenden Flatscreen. Osama, dieses widerliche Umweltschwein!

Wie heißtn das Lied im Vid?

suedwestfunk hat gesagt…

Das ist der Anfang (und nur einer von ungezählten anderen) all der Hekatomben von Erzählungen, die es zukünftig über die Erschießung eines heiligen Märtyrers, Massenmörders, lebensfernen Greises ... geben wird. Allahu akhbar!

apollinaris hat gesagt…

Jetzt heißt es, er, der Millionärssohn, habe auf seinen letzten Videos "gegen den Kapitalismus gepredigt". Wir, die deutschen Qualitätsjournalisten, werden dem Mann schon noch irgendwelche "sympathischen" Züge abringen können.

ppq hat gesagt…

das lied heißt weiß ich nicht. ich züpfte es nur so aus den saiten, nac hdem youtube die originalunterlegung mit einigen kernsätzen von hüsch über rolle und bedeutung von pornografie in ca. 138 von 139 ländern weiltweit gesperrt hatte