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| Das Gesicht des Juli 2025: Eine Rechtsprofessorin aus Potsdam, die selbstverständlich eigentlich aus Hamburg stammt, wird zum Prüfstein für Prioritäten,die die Bundesregierung setzt. |
Come July, we'll ride the Ferris wheel. Go 'round and 'round and 'round.
And if you never let me go. Well, I will never let you down.
The Backseats, Brian Fallon, 2009
Es war ein Jahr zum Vergessen und vielen gelang das außerordentlich gut. Der neue Kanzler wusste schon nach Wochen nicht mehr, was er versprochen hatte. Seine Hilfstruppen von der SPD hatten verdrängt, dass sie wiedermal eine Wahl verloren hatten. In der Welt draußen wendete sich einiges zum Besseren. Deutschland aber blieb mit klarem Kompass auf Kurs.
Der Rückblick auf 2025 zeigt zwölf Monate, die es in sich hatten. Nie mehr wird es so sein wie vorher.
Depression statt Stimmungsumschwung. Ernüchterung statt Politikwechsel. Deutschland im Juli 2025 ist wie eine Puppenstube, in der die Barbies um die Wimperntusche zanken. Als wäre die Welt nicht in Bewegung und es höchste Zeit, sich selbst neu zu erfinden, verwaltet die neue Bundesregierung die Tristesse im Stil ihrer Vorgängerin.
Der Juli des Jammerns
Jaja, es gibt viele Probleme. Das größte aber, vor dem Deutschland in diesem Juli des Jammers steht, trägt den Namen Frauke Brosius-Gersdorf. Die Jura-Professorin, so haben es SPD und Union wie üblich hinter verschlossenen Türen abgemacht, soll einen der frei werdenden Richterstühle am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe besetzen. Handdrauf! Dass das so gemacht wird, hat noch niemals jemanden gestört. Und waren die von Hand verlesenen Vertrauten der großen Politik nicht immer gute Sachwalter der gemeinsamen Sache?
Unionsfraktionschef Jens Spahn hat der SPD versprochen. Friedrich Merz, in vielen Belangen Merkel, im Manipulieren mit der Seele seiner Partei aber nicht, ist sich seiner Sache sicher. Bis eine Welle des Protests über Äußerungen der Kandidatin losbricht, die Brosius-Gerdorf die für das höchste Richteramt unerlässliche Neutralität absprechen.
Gegenwind für die Kandidatin
Niemand, der als Hochschullehrer bekundet habe, die AfD gern verbieten zu wollen, könne an einem Gericht Recht sprechen, das womöglich bald über genau diese Frage zu befinden hätte. Und niemand, der das Grundrecht auf Leben mit dem Satz relativiere, dass die Annahme, die Menschenwürde gelte überall gelte, wo menschliches Leben existiere, sei "ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss", weil "Menschenwürde- und Lebensschutz rechtlich entkoppelt" seien, dürfe infrage kommen für ein Amt, das auch dieses Grundrecht unbedingt zu schützen habe.
Selbstverständlich ist es ein neues Kapitel im Kulturkampf, das da mitten im Klimasommer verlesen wird. Die SPD beharrt auf ihrer Kandidatin. Die Grünen machen sie jetzt zu ihrer. Auch die Linke erhofft sich vom lauten Lärm um ein jahrzehntelang stillschweigend bemühtes Verfahren Vorteile. Die Union würde sich liebend gern über alle Bedenken hinwegsetzen. Allein ein nicht unwesentlicher Teil der Parteibasis hat den Fall Brosius-Gersdorf entdeckt, um der Parteiführung ihre grundsätzliche Unzufriedenheit mitzuteilen.
Enttäuschung nach den Flitterwochen
Zusammen geht nichts, die noch kaum aus den Flitterwochen zurückgekehrte Koalition hat ihren ersten Ehekrach. Sie leben ihn aus wie wirklich Jungverliebte. Brosius-Gersdorf ist, Krieg hin, Krieg her, Wirtschaftskrise, Entlassungswelle, Gaza, Demokratiekoma, rechte Gefahr, innere Sicherheit, offene Grenzen und Kassenlöcher beiseitegelassen, das Schlachtfeld des Sommers.
"Wäre Frauke Brosius-Gersdorf ein Mann und würden Männer Kinder kriegen, hätten wir so eine Debatte nicht", schreibt Jürgen Kasek, früher grüner Landeschef in Sachsen und wegen Verwahrungsbruch und übler Nachrede inzwischen zu einer Strafe von 80 Tagessätzen zu je 35 Euro verurteilt. "Das Problem", sagt der Mann, der auch nach dem Entzug seiner Anwaltszulassung weiter als Anwalt praktiziert haben soll, "heißt immer noch Patriarchat".
Noch mehr Feuer unterm Baum
Wer solche Helfer hat, muss selbst in die Bütt. Die umstrittene Professorin scheut die Öffentlichkeit nicht. Vermeintlich, um ihre Chancen zu erhöhen, tatsächlich, um noch mehr Feuer zu legen, setzt sie sich ins Fernsehen. Die erste potenzielle Verfassungsrichterin, die Wahlkampf in eigener Sache macht, unter dem Jubel ihrer Unterstützer. Ihretwegen soll wahlweise Jens Spahn gehen oder Merz ein Machtwort sprechen. Die Unabhängigkeit der Ausübung des Abgeordnetenmandats sei aufzuheben, heißt es. Nichts ist absurd genug als das es sich in einem absurden Streit um des Kaisers Bart nicht als Lösungsvorschlag vorbringen lässt.
Besser als mit dem Bild der sich aufgeregt um Kopf und Kragen plappernden 54-Jährigen lässt sich Deutschland mitten im Ausnahmezustand nicht illustrieren. Brosius-Gersdorf ist etwas älter als die Generation Ich insgesamt, sie ist noch ein wenig mehr von sich eingenommen und geht mit der deutschen Sprache noch etwas ungeschickter. "Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte", sagt sie in dreifacher Betonung: Absolut. Gemäßigt. Aus der Mitte.
Verschlafener Wirtschaftswandel
Ringsum brechen die Hoffnungen zusammen, selbst die, den unter Merkel und Scholz verschlafenen Wirtschaftswandel importieren zu können. Selbst die zehn Milliarden, mit denen der frühere Klimawirtschaftsminister Robert Habeck den US-Chipkonzern Intel hatte einkaufen wollen, reichen nicht, die Zusage umzusetzen. Gemessen an der Aufregung um Brosius-Gersdorf aber sind das Petitessen: Das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" widmet dem Kandidatenstreit 174 Beiträge. Dem Ende der deutschen und europäischen Hoffnungen darauf, die mit dem EU-Chips-Act geplante Vision vom Hightech-Kontinent umzusetzen hingegen nur 38.
Es sind die Prioritäten, die auch die Bundesregierung setzt. Schneller als gedacht ist der Sommer da, der den großen Stimmungsumschwung bringen sollte. Doch statt Menschen die auf den Straßen den Aufschwungwalzer tanzen, diskutieren ganz einfache Leute das Elend der vielen Subventionen, die katastrophale Standortattraktivität und eine Zukunft, die für jeden sichtbar ihre Basis verliert.
Aber die Kinder!
Was soll denn nur werden? Woher soll der Wohlstand kommen? Wir haben's ja noch geschafft, vier Jahre bis zur Frührente. Aber die Kinder! Bosch verkürzt die Arbeitszeit, VW plant Massenentlassungen, selbst die Kindergärten leiden an Nachfragemangel: Anders als die Politik vermutet hatte, ist die große Nachwuchswelle der Jahre nach 2015 keine dauerhafte Entwicklung. Wie ein Hochwasser schwappen die Übergeburten der Hochzeit der Willkommenskultur einmal durch. Nach fünf, sechs oder sieben Jahren kommt nichts mehr nach, die vielen eigens neu gebauten oder erweiterten Tagesstätten zu füllen.
Politik ist, wenigstens in Deutschland, kein lernendes System. Weil die vielen Kinder aus dem importierten Boom alle auf einmal vor den Schulen stehen, werden davon jetzt neue errichtet. Man müsse endlich "in Bildung investieren", heißt es mit Blick die Bildungsausgaben, die seit 1995 von 76 Milliarden Euro auf fast 200 Milliarden Euro gestiegen sind. Genug ist nie genug, Bildung gilt als ein Thema, mit dem sich immer punkten lässt, denn jeder Politikernde weiß: Der Wähler hat die Zahlen nicht.
Alles mit Augenmaß
Und lieber als sich mit Problem zu befassen, bei denen längst niemand mehr weiß, wie sie sich lösen lassen könnten, beschäftigt sich auch das neue Kabinett mit denen, die auf offener Bühne mit großen Gesten bekämpft werden können. Verbrenner aus Heizungsgesetz, das müsse alles weg, aber nicht so ganz. Das Klima muss auch bleiben, aber mit Augenmaß. Aufrüstung auf jeden Fall, aber richtig klug. Wehrpflicht? Im Sommer heißt es noch vielleicht, aber doch, unbedingt, wenn auch nicht als Pflicht.
Nicht mal 60 Tage sind sie alle im Amt und schon ist genug geschafft, dass ein wohlverdienter Urlaub angetreten werden kann. Für Frauke Brosius-Gersdorf sind das keine guten Nachrichten, denn das heißt, dass ihr Fall dann aber doch auf herkömmliche Weise geklärt werden wird. Vertagung auf nach der Sommerpause. Hoffnung auf Abkühlung und eine neue Hinterzimmerverabredung. Neue Kandidatin, wenn alle runter sind vom Baum und draußen im Land neue Horrormeldungen von Ostflanke, der Pflegeversicherung oder Waldbrände die Menschen auf andere Gedanken gebracht haben.
Ablenkung dank Alice
Dass es Alice Weidel sein würde, die für Ablenkung sorgt, hatte niemand erwartet. Doch mit Hilfe der Kunstschaffenden des Zentrums für Politische Schönheit gelingt der AfD-Chefin ein echter Coup: Zum Interview eingeladen von der ARD, schafft es die Parteivorsitzende nicht, einen einzigen verständlichen Satz über den Sender zu bringen. Die Aktivsten vom ZfPS verhindern es mit ihrem nach Konrad Adenauer benannten Terrorbus, einem fahrenden Lautsprecher, der quer über die Spree einen Chorgesang sendet: "Scheiß ARD, Scheiß ARD, Scheiß ARDehehe, Schei-eiß ARD!", singen der Augsburger Hans-Joachim "Jodler" Schmitz und seine Genossen.
Das andere Deutschland, hier ist es zu hören. Keine Wellenlänge den Faschisten, kein Cent Zoll den Amerikanisten. Europa steht im Zollstreit mit den Staaten wie ein Mann, der lieber im Stehen stirbt als sein Knie zu beugen. Bernd Lange, ein Gewerkschafter, der zum EU-Parlament gehört wie das "Who the fuck" zum Smokie-Hit "Living next Door to Alice", droht mit Gegenzöllen, neuen Abgaben für Digitalkonzerne, dem Ausschluss von US-Konzernen bei der Vergabe der besonders lukrativen Aufträge zur Umsetzung von großen EU-Programmen wie Green Deal, Digital AC und KI Act. Geht es ums Geld, fehlt es auch Eurokraten nie an Fantasie.
Alles müssen auf Europa hören
Es sind die fünf Minuten des 70-jährigen Sozialdemokraten, der sein 30. Jahr in Straßburg absitzt und immer schon dafür war, dass Europa Handelsabkommen so schließen muss, dass alles Welt die EU-Standards einhält und die grüne wie die digitale Transformation unterstützt. Es dauert ein bisschen, biss Europas Verhandlungsführerin Ursula von der Leyen den so lange und leidenschaftlich als "Orange Man" und "Hassprediger" geschmähten Donald Trump im Weißen Haus so weit hat. Ende Juli gibt der Republikaner dem europäischen Druck nach: Trump räumt den EU-Staaten dieselben Zollsätze ein, die auch die Taliban in Afghanistan zugestanden bekommen.
Lange, der Taliban der Zollkriege, scheint es auch zufrieden zu sein. Einmal nur noch taucht der Vorsitzende des Handelsausschusses des Parlaments, dessen Zustimmung zu Beschlüssen in den demokratischen Medien der Mitte meist als "Formsache" beschrieben wird, nach dem Punkt- und Satz- und Spielsieg von der Leyens öffentlich auf. In einem auf EU-Berichterstattung spezialisierten Nischenmedium weist der "erfahrene Abgeordnete" (euractiv.de) darauf hin, "dass die Zustimmung des Parlaments letztlich von den konkreten Details abhängen werde".
Die siegreichsten Niederlagen des Juli:
- Ein symptomloser Sommer
- Wachstumsknick statt Hoffnung
- Abgang aus der Puppenstube
- Und jetzt: Stimmung!
- Der Rächer an den Erbenden
- Teurer Sieg im Zollkrieg
- Europas Ein-Mann-Armee
- Reiches neue Rentenpläne
- Strafsteuer für die bösen Boomer
- Warum es keine Deutschinnen gibt
- Kotau nach gellendem Kampfgebrüll


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