Dienstag, 28. März 2023

Jahrgedächtnis Staubfänger: Brinkhaus' Aufruf zur Revolution

Es war ein Ruf wie Donnerhall: Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus forderte vor zwei Jahren eine Revolution für Deutschland.

Revolution! Das Morgen schon im Heute! Kein Bett und kein Thron für den Arsch zufried'ner Leute! Ralph Brinkhaus, der beim Anlauf auf den CDU-Vorsitz so tragisch gescheiterte Atlantiker, hatte die Nase gestrichen voll an jenem Märztag des Jahres 2021. Deutschland schien dem erfahrenen Innenpolitiker, lange Zeit ein zuverlässiger Gefolgsmann der ewigen Kanzlerin Angela Merkel, kurz vor dem Ende der Ära, die Deutschland in das Beste Deutschland aller Zeiten verwandelt hatte, müde, matt und krank. Ein Land, in dem Politiker routiniert lügen. In den Bürgerinnen und Bürger den Lügne*innen nicht mehr vertrauen wollen. Was Medien zu kaschieren suchen, indem sie immer nur noch besser zu erklären versuchen, wie gut es die da oben mit denen da unten meinen.

Wieder ganz offen und ehrlich die Wahrheit sagen" müsse man, sagte Brinkhaus im Bundestag. Aber nicht einmal das reiche mehr. Es brauche vielmehr einen Neustart für Deutschland, für das politische System, die Demokratie, die Gesetzlichkeiten. Alles. Er sprach sich dafür aus, "mit jenen ins zu Gespräch kommen, die sich von uns abgewandt haben", und selbst Protestwähler – namentlich der AfD – nicht für ewig mit einem Bann zu belegen.

Radikale Absage an Große Lähmungskommission

Einmal in Fahrt gekommen, war der Mann, der gegen den Willen der Kanzlerin in sein Amt als Fraktionsvorsitzender gewählt worden war, nicht mehr zu halten. Das Oberste kehrte er zuunterst. Kein Tabu ließ er unberührt. "Auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren", wetterte der Abgeordnete aus Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen im Bundestag. Zu lange habe man zugeschaut, wie alles in die Binsen gehe. "Diesen Staub müssen wir beseitigen!" Ein Alarmruf, ein Ruf zu den Waffen. Brinkhaus, vor knapp drei Jahren Auslöser einer ersten Kanzlerinnendämmerung, als er Volker Kauder stürzte, der länger als ein Jahrzehnt als Kettenhund der Kanzlerin gediente hatte, schnitt bei seiner Abrechnung mit dem System das Fleisch bis auf die Knochen hinunter.

Wir brauchen in diesem Land nicht nur eine Reform, sondern wahrscheinlich sogar eine Revolution", rief der bis dahin eher als konservativ eingeschätzte CDU-Mann. Staub von 200 Jahren, die obersten Schichten in 16 Jahren Merkel selbst gemacht. Die Hoffnung und das unbedingte Versprechen des 52-Jährigen an Bürgerinnen und Bürger, Längerhierlebende und Nochnichtsolangeanwesende: Wäre die CDU endlich auch mal an einer Bundesregierung beteiligt und hätte sie in den Ländern etwas mitzubestimmen, wenigstens in manchen, werde Deutschland fit gemacht für die Zukunft, die erste digitalisierte Demokratie mit eingebauter diverser Nachhaltigkeit und - damals noch wichtig - täglicher Testpflicht.

Hoffnung für die Toten

Freilich: Damals witterte der Mittfünfziger noch die Chance, selbst als Kandidat für das höchste Amt infrage zu kommen. Die Revolution von ganz oben, sie wäre sein Projekt gewesen, an die zu denken, die schwach sind, "die Einzelhändler und überlasteten Intensivpfleger", die Leute, die zu Hause blieben, die Menschen, die mit Langzeitfolgen erkrankt seien, und die Menschen, die "einen elenden Tod gestorben" seien. "Es ist unsere Verantwortung, etwas für diese Menschen zu tun", sagte Brinkhaus, und er machte den Toten Hoffnung: "Natürlich hilft Testen, natürlich hilft Impfen."

Im dunkelblauen Macher-Anzug

Dass es nichts damit wurde, habe sich die Menschen draußen im Lande selbst zuzuschreiben. Erst zog die Union den unglücklichen Armin Laschet Brinkhaus als Kandidaten vor. Dann sah sich der frischgebackene Revolutionär sogar gezwungen, seinen Platz als Fraktionsvorsitzender zu räumen, um dem neuen Parteichef Friedrich Merz mehr politisches Gewicht zu verschaffen. Auf seinem neuen Platz in einer der hinteren Reihen verstummte Ralph Brinkhaus dann. 

Und der von ihm geplante Umsturz, der Deutschland in einen agilen Staat voller Dynamik hastte verwandeln sollen, er fiel aus. Zum Jahrestag der großen Revolutionsrede ist nicht nur Brinkhaus abgetaucht. Auch sein Vermächtnis, aufzuräumen und Staub zu wischen, ist den komplizierten Regelwerken, den EU-Richtlinien und dem Beharrungsvermögen der alten Mächte der Bürokratie und Bundespolitik unterlegen. 

Keine Revolution per Ruckrede

Es führt offenbar kein Weg über eine Ruckrede zur Revolution und kein Bittgebet zu einem staubfreien Haushalt. Längst haben sich die einstigen Reformer und zu allem entschlossenen Revolutionäre in kontemplative Stille zurückgezogen. Der Staub aus all den kaiserlichen und hitlerschen Jahren, er türmt sich auf Beihilferichtlinien und Rettungspaketen, auf Einigungen mit der EU und Preisbremsen, auf Regelungen zur Steuerpflicht von Vermögenszuflüssen durch staatliche Energiepreisspenden und einer in Lähmung gefallenen Zeitenwende. 

Alles, wie es immer war. Und Brinkhaus' großer Aufruf verpufft.

Montag, 27. März 2023

Berliner Luftnummer: Der Kampf geht weiter

Freshes Klimagirl: Luisa Neubauer.

Wo das Klima ist, da ist selbstverständlich auch sie. Luisa Neubauer, eigentlich ein Hamburger Deern, führt den Kampf um die globale Welttemperatur aber von vorn, von oben, von dort, wo die Thermostate sind und das Volk willig, sich einzureihen in die grünen Truppen, die um die Zukunft bangen. Der Klimaentscheid von Berlin war ein Heimspiel für die Norddeutsche,. die sich in der Hauptstadt bereit hält, die lahmende und vom Koalitionszwist gelähmt grüne Staatspartei eines Tages zurückzuführen zu ihren radikalen, rabiaten und tatsächlich weltrettenden Wurzeln.  

Eine Strategie aus Nadelstichen

Neubauer, die nach acht Jahren Geografie-Studium und ehrenamtlichem Engagement in der jungen, freshen Klimabewegung zu einem der ideologischen Köpfe der nächsten grünen Generation gewachsen ist, weiß, wo es langgeht. Und mit 23 hat sie auch noch mehr Zeit als der Weltuntergang. Doch wer etwas erreichen will, der braucht die permanente Revolution, eine Strategie aus Nadelstichen, die das Klimathema jeden Tag reitet, jede Stunde, auf allen Kanälen und in allen Himmelsrichtungen. 

Es soll niemand mehr sein können, ohne rund um die Uhr konfrontiert zu werden mit seiner Verantwortung. Wer geht und steht, wer isst, heizt, fährt oder läuft oder - wie der Kanzler - reist, er braucht Ängste, Schuldgefühle, den Eindruck, es komme auf ihn an. Nur unter Druck entstehen Diamanten, nur mit Gewalt gelingen Revolutionen.

Scheitern im Ersten Anlauf gehört dazu

Dass sie im ersten Anlauf auch scheitern können, das war Luisa Neubauer klar. Deutschland 1848, Russland 1905, Deutschland 1923, China 1927, Afrika 2006. Die Geschichte ist voller Versuche, die Erde zu einem besseren Ort zu machen, wie es auch die Initiative "Berlin klimaneutral bis nächste Woche" mit ihrer Idee vorhatte, die Schonlängerdortlebenden und ihre zugezogenen Nachbarn 786 Jahre nach der offiziellen Ersterwähnung ihrer Stadt darüber entscheiden zu lassen, ob die deutsche Hauptstadt ihren Betrieb im Dienste des Weltklimas umgehend einstellen oder weiterhin an Helmut Kohls verhängnisvollem Vorschlag vom "Weiter so" festhalten soll.

Wahrheit oder Pflicht? Die Hoffnung bei Neubauers war groß, dass die breite mediale Unterstützung für die gute Sache reichen würde, eine ausreichende große kleine Minderheit von rund 600.000 Berlinerinnen und Berlinern in einem schwachen Moment zu erwischen, so dass sie gegen egoistische Partikularinteressen und für das große Menschheitsziel einer klimaneutralen ehemaligen Preußenmetropole stimmen.

Es fehlt an preußischem Opfermut

Doch ach, doch ahhh. Selbst der deutsche Hauptstädter, ein Menschentyp, der seine typisch preußische Opferbereitschaft vor 80 Jahren erstmals stoisch unter Beweis gestellt hatte, zeigte der Vision von der Stadt, die nur noch schläft, um möglichst wenig CO2 zu verbrauchen, an der Wahlurne die kalte Schulter. Die 607.518 Ja-Stimmen, die gereicht hätten, den Verkehr in den kommenden Wochen und Monaten lahmzulegen, das Heizen von Häusern zu unterbinden, private Pkw dauerhaft an den Stadtrand zu verbannen und die Reste der einst beachtlichen Berliner Industrie nach Polen und in die USA, sie kamen nicht einmal annähernd zusammen.  Es wurde nicht einmal "sehr, sehr knapp", wie eine kleine Hauptstadtzeitung beschwor. Sondern sehr, sehr deutlich.

Wo aber eine Schlacht verloren wird, das geht der Kampf weiter, wie es Rudi Dutschke die Nachgeborenen gelehrt hat. Kaum war die Schlappe amtlich, kaum war bewiesen, dass selbst der wenig rational denkende Teil der Berliner nicht groß genug ist, um sich glauben lassen zu machen, dass schneller laufen kann, wer sich aus Gewichtsgründen ein Bein abschneidet, stand Luisa Neubauer schon wieder vor Kameras und kündigte die nächsten Angriffe auf das in Deutschland von staatswegen organisierte System der Klimavernichtung an. 

"Mehrheit für Berlin 2020"

Neubauer weiß: Wichtig ist nicht das Ergebnis, sondern zuallererst die Deutung. Und notwendig vor allem die Verklärung der Niederlage zu einem Sieg, der den Anhang weiter glauben und alle anderen weiter fürchten lässt. Die womöglich schon nächste grüne Parteichefin definierte also noch am Abend der Pleite der bizarren "Volksabstimmung" über den Umzug ins Wolkenkuckucksheim  "eine Mehrheit für Berlin2030", die nur leider nicht gereicht habe. So ungerecht geht es zu, so lange man selbst nicht das Sagen hat.

Das sei "nicht nur hart für den Volksentscheid, sondern für alle, die sich darauf verlassen können sollten, dass im Klimaschutz endlich losgelegt wird". Bangemachen aber gilt nicht. Ein Nein wird nun "teurer als ein Ja", aber das wird der Preis sein, den Berlin zahlen muss, bis seine Bürgerinnen und Bürger ein Einsehen haben und Berlin mit einem neuen Klimagesetz "zum Vorbild für die Welt" (Neubauer) machen. "Wir kämpfen bergauf", hat Luisa Neubauer unmittelbar nach der Verkündigung eines Abstimmungsergebnisses erklärt, nach dem nur 442.000 von knapp 2,5 Millionen wahlberechtigten Berlinern für den totalen Klimaausstieg binnen von nur sieben Jahren stimmten.  

Ehrgeizig und streng

Das sind viel mehr Menschen, als einstmals auf die Feldherrnhalle marschierten, und noch viel mehr, als mit Walter Ulbricht im Flugzeug saßen, um die Heimat zu retten. "Auch nach heute ist klar: Wir kämpfen weiter", sagt Luisa Neubauer trotzig. Das Klima hat noch Hoffnung. Die Welt muss nicht zwingend untergehen. Gibt sich das einst durch die Alliierten aufgelöste Preußen im nächsten Anlauf dich noch "ehrgeizige Klimaziele" (Die Zeit), die durch "strenge Regeln" (DPA) rechtssicher durchgesetzt werden, kann die Menschheit vielleicht doch noch einen Ausweg finden: Geleitet vom Licht aus der deutschen Hauptstadt.

Pipeline-Ping-Pong: Bombenleger mit Ladekran

Die vom Cyberkommando der Bundeswehr entwickelte KI "BuAI-ABC" hat dieses Phantombild eines der Täter entworfen.

Die Luft wird dünn für Moskau, in Washington, Berlin, London und Kiew dagegen darf für den Augenblick aufgeatmet werden. Im Streit um die Verursacher der "Explosionen" (DPA) an den Erdgaspipelines Nord Stream I und II, nach denen "im September vergangenen Jahres große Beschädigungen entdeckt" (DPA) worden waren, gibt es eine neuerliche Wendung. Diesmal glücklicherweise zum Guten.

Analyse von Bewegungsdaten

Nachdem zuerst Russland verantwortlich für die Zerstörung seiner eigenen Anlagen verantwortlich gemacht worden war, später durch den ehemaligen Reporter Seymor Hersh die USA in den Fokus rückte und zuletzt dann durch Pressemitteilungen aus Washington eine ukrainische Kleinstgruppe Schlagzeilen machte, ist nun wieder Moskau im Visier.  Eine in den zurückliegenden fünf Monaten durchgeführte Analyse von geheimen Schiffsbewegungsdaten, aufgezeichnet von Satellitenbilder, zeigt,  dass im Tatzeitraum die russische Korvette "Soobrazitelny" und die Fregatte "Yaroslav Mudry" in Tatortnähe kreuzten. 

Kein Beweis, aber ein weiteres Indiz, auch wenn das russische Verteidigungsministerium behauptet, die Kriegsschiffe hätten nur "zu Übungszwecken einen Schiffskonvoi eskortiert". Eine Aussage, der nicht zu trauen ist, weil bekannt wurde, dass die Technik, um an den in 80 Metern Tiefe liegenden Rohrleitungen Sprengsätze anzubringen, "demnach an Bord" (T-Online) war. So verfüge die "SS-750"  über ein Mini-U-Boot mit Greifarmen und die Schlepper "SB-123" und "Alexander Frolow" seien mit Lastkränen  ausgestattet. 

Bombenleger mit Ladekran

Deren Fehlen auf der Yacht "Andromeda", die zuletzt von Rostock aus aufgebrochen war, um das Kapitel Nord Stream mit einem Wumms zu beenden, hatte selbst bei Verschwörungstheoretikern ernst Zweifel geschürt, ob ein sechsköpfiges Team auf einem Freizeitboot wirklich ausreichen könne, einen erfolgreichen Vernichtungsangriff auf ein milliardenteures Stück kritischer deutschen Infrastruktur zu verüben.

Nun war es doch wieder Russland, wie schon ganz zu Beginn der Aufarbeitung der schwersten Angriffe auf eine deutsche Industrieanlage seit Frühjahr 1945. Die Spuren scheinen eindeutig: Auf ihrem Weg Richtung Tatort sandten die beiden russischen Schlepper am Nachmittag des 21. September vermutlich irrtümlich Positionsdaten, so dass das wohl ursprünglich streng geheime Unternehmen nun im rahmen der akribischen Fahndungsmaßnahmen der Behörden in Deutschland, Schweden, Dänemark, den USA und Russland aufflog.

Gut für Kiew und Berlin

Gut für die Ukraine, der aufgrund von Sprengstoffresten auf dem Abendbrotstisch in der Kombüse der "Andromeda" eine Mitverantwortung untergeschoben worden war. Aber auch in Berlin dürfte die Meldung des Fahndungserfolges für Aufatmen sorgen. Vor allem der einzig auf den Aussagen einer einzige anonymen Quelle aufgebaute Vorwurf der ehemaligen Enthüllungsreporterlegende Hersh, die USA seien verantwortlich für die Sprengung und die Lecks in den Nordstream-Pipelines, hatte die Bundesregierung in Verlegenheit gebracht. 

Fest steht nun, dass nach Angaben Schwedens Sabotage hinter dem Vorfall steckt - eine neue künstliche Intelligenz, die vom Cyberkommando der Bundeswehr entwickelt wurde, zeigt sogar eine/n der Täter*in: Versehen mit Maske, Taucheranzug und Sauerstoffflasche ist der/die Unbekannte in der Computeranimation zu sehen, wie ersiees bodennah mit einer Tüte hantiert, in der sich offenbar ein rätselhafter Gegenstand  befunden hat.

Sonntag, 26. März 2023

Einsparung bei Himmelrichtungen: Aller guten Dinge sind drei

Vier Himmelsrichtungen galten bisher als Voraussetzung zur Orientierung im Raum. Nun aber wird neu nachgedacht.
 
Noch geht es ihm gut wie selten, er ist einig wie beinahe nie, wirtschaftlich potent und politisch so mächtig, dass die übrige Welt mit Bangen, aber auch mit großer Hoffnung zuschaut, wenn er seine Entscheidungen über die Zukunft aller trifft und Kurs setzt auf neue Horizonte. Der Westen, einst eine Himmelsrichtung wie die anderen auch, später aber ein Weltbild, eine Einstellung, ein Vorbild und Fanal für alle Völker, ihm nachzueifern. 
 

Wiederauferstehung und Ende

 
Der Krieg an der "Ostfront" (Die Presse) schien die Wertegemeinschaft anfangs schwer zu verstören. Anderswo einzumarschieren, das war ein Recht, dass denen vorbehalten sein sollte, die gute Gründe haben. Doch die Vitalität, die sich die Führer der freien Welt eben noch selbst abgesprochen hatten, sie kehrt im Blutbad schnell zurück. Die "hirntote" Nato (Emmanuel Macron), gerade noch "obsolet" (Donald Trump), erstand vom Totenbett auf. Die zerstrittenen Partner rechts und links des Atlantiks zogen so kräftig an einem Strang, dass es deutschen Mediennutzer erscheinen manchmal wollte wie der Auftritt eines globalen Teams. Wo man nicht übereinkam, da machte man nicht viele Worte. Wo man einander nicht mehr zu trauen wagte, machte man gar keine.

Der Phoenix flog über die Asche des Endes des Endes der Geschichte. Nur noch schnell Deutschland dämmen und die Elektrifizierung des ganzen Landes durchziehen. Niemand irgendwo auf dem "Planeten" (Georg Diez) würde sich dem neuen Denken dann noch verschließen können: Frohsinn entsteht aus Verzicht. Freiheit aus der Einsicht in die Notwendigkeit. Und das wahre Glück ist, nicht mehr zu vermissen, was einem fehlt. 

Vieles wird nicht mehr gebraucht

 
Wer braucht noch Kaufhäuser, private Fahrzeuge, Heizungen oder das Recht der freien Rede bis zur Grenze, die früher die Strafbarkeit zog. Wenn niemand mehr Geld hat, muss keiner mehr etwas kaufen. Dank 49-Euro-Ticket wird Mobilität zum Kollektiverlebnis. Und wie Klaus Seibold, eine Art menschliche Zitatenfabrik, bereits vor Jahren festgestellt hat: Die Meinungsfreiheit erlaubt es eben auch zu schweigen.

Dieser neue, vitale und von Vergewisserungskonferenz zu Vergewisserungskonferenz tourende Westen steht nun allerdings plötzlich zu Disposition. Gerade noch retten sie das Klima, treffen sich als G7 und G20 und in Ägypten und in Washington, kommen in Brüssel zusammen und suchen als diese oder jene Runde der immergleichen Verantwortungstitanen nach Lösungen für dieses oder jenes Weltproblem. Aber ist etwa. Immer legt sich jemand quer. Nie besteht Einigkeit. Und kein starker Mann tritt auf und haut mal auf den Tisch, dass die Tassen im Schrank tanzen.  

Immer dieses Gerede

 
Dabei ist doch die Sehnsucht von Medien und Menschen so groß. Nach einem Habeck, der nicht nur weiß, was "wir müssen", sondern der es auch durchsetzen kann. Nach einer Annelena Baerbock, der ein Schwert gegeben ist, um die gordischen Knoten der Weltinnenpolitik zu zerschlagen. Nach einem Boris Pistorius, der nicht nur auftritt wie ein General, sondern die Truppen auch mal in Marsch setzen kann, weil sie fiebern und nach vorn drängen, modernst ausgestattet und behängt mit Abertonnen treffsicherster Munition.  

Wie aber soll das alles werden ohne deutliche Ansagen und Durchregieren? Wenn über alles verhandelt werden muss, Verbrenneraus gegen Kernkraft, Panzerlieferungen gegen Frackinggas, Stillschweigen gegen Frieden. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke sieht angesichts einer Situation, in der Leute wie Putin, Xi oder Kim Jong Un ohne Widerspruch flott dahinregieren, ihre Gegenspieler Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Joe Biden aber immer erst reden und palavern müssen, ehe sie mit Deutschland-Geschwindigkeit fahrt aufnehmen können. 

Der Ausgang des Rennens

 
Koschorke kennt den Ausgang des Rennens bereits. Die Tage des Westens seien gezählt, hat er der Wochenschrift "Die Zeit" anvertraut: Erstmals deutet damit ein Wissenschaftler an, dass die Menschheit sich von einer der vier Himmelsrichtungen trennen könnte. Nord, Süd, West und Ost, das galt bisher als das unveränderbare Koordinatensystem der Erdkugel, zweidimensional, aber zur Richtungsbeschreibung brauchbar. Die herausragende Rolle im Quartett spielte dabei ausgerechnet der Westen: Er war stets die einzige Himmelsrichtung, die sich nicht nur als Wegweisehilfe, sondern auch als Kontinent, Glaube, Wertesystem, Botschaft und Gemeinschaft verstand.

Der "Westen", der im Unterschied zum Osten und erst recht zu Norden und zum Süden über Jahrhunderte ein Gefühl seiner selbst entwickelt hatte, scheidet also nun aus der Geschichte aus. Kein Platz ist mehr für ihn in der "neuen Weltordnung", die Koschorke aufdämmern sieht, dreibeinig nur noch, weil sich der globale Einfluss des Westens aufgrund ihrer kolonialistischen Vergangenheit und ihrer Doppelmoral in Sachen Menschenrechten in einem dramatischen Niedergang befindet. 
 

In Zukunft ein Dreibein

 
Übrig bleibt in der Zukunft nur ein Dreibein, das in der Statik als kleinste stabile geometrische Figur im euklidischen Raum gilt, weil nur drei von einem gedachten gemeinsamen Punkt ausgehende Vektoren alle Plätze auf der Kugeloberfläche des "Planeten" (Georg Diez) umfassend bezeichnen. Nord, Süd und Ost benötigen keinen Westen mehr, sie können auf eigenen Beinen stehen, ohne den mentalen Kolonialismus des alten Europa, ohne die Weltpolizeimethoden der ehemaligen Neuen Welt und ohne die herausragendste Charaktereigenschaft des Kontinents, der das Schicksal der Menschheit seit 2.000 Jahren geprägt hat: Die Doppelmoral.

Magier Macron: Zaubertrick zur Zeitumstellung

Der Druck ist größer, viel größer noch als selbst die hochdramatischen "Tagesschau"-Berichte vermuten lassen. Seit der damalige EU-Chef Jean-Claude Juncker den Europäern vor fünf Jahren einen endgültigen Ausstieg aus der zweimaligen jährlichen Zeitumstellung versprach, um kurz vor dem Ende seiner Amtszeit wenigstens einmal zu zeigen, wie entscheidungsstark und einig die europäische Wertegemeinschaft sein kann, hat zwar das EU-Parlament dem Vorschlag zur Einführung einer zentral gesteuerten europäischen Einheitszeit zugestimmt. Doch am ewigen Klein-Klein der unterschiedlichen egoistischen Ansichten der immerhin noch 27 Staatenlenker zerbrach der große Plan von der einen Zeit für alle.  

Immer noch früher dunkel

Immer hoch wird es in Schweden früher dunkel als in Portugal. Immer noch müssen zweimal im Jahr lange Analysen darüber verfasst werden, warum es nicht geht und wann nicht und wieso überhaupt. Während es immerhin gelang, einen dicken und blickdichten Mantel des Schweigens über den Umstand zu breiten, dass die Wertegemeinschaft bis heute nicht einig werden könnte, wer der wahre Präsident Venezuelas ist, die einen sagen so, die anderen so, hacken selbst seriöse Informationsplattformen unermüdlich auf dem Umstand herum, dass das nervige Ritual der sogenannten "Zeitumstellung" (Tagesschau), die eigentlich eine Umstellung der Uhren ist, trotz bitterer Entschlossenheit aller Beteiligten weiterhin kein Ende findet.

Es war nun Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der den unter Zeitlag leidenden Bürgerinnen und Bürgern mit einem deutlichen Zeichen signalisierte, was er vom andauernden Gezerre um die Zeit hält. Macron, ehemals Teil des europäischen Führungskernduos Mercron, später großer europäischer Visionär und heute entschiedenster Verteidiger des Glaubens an die Risikotechnologie Atom in der EU,nutzte einen Fernsehauftritt zur Verteidigung seiner "umstrittenen" (DPA) Rentenreform, um seinen bislang größten Trick vor Millionen staunenden Augen vorzuführen: An einem Tisch mit zwei kritischen Journalisten sitzend, zeigte sich der Vater der Rettung des französischen Ruhestandssystems anfangs noch mit einer Uhr im Wert von 80.000 Euro. Ein Zeichen an das hochgebildete, einkommensstarke und fortschrittliche Milieu der Altersselbversorger, aus dem der 45-Jährige selbst stammt.

Edle Gesinnung, edle Uhr

Soweit, so normal. Edle und möglichst teure Uhren gelten vom Geld- und Politadel bis in die Kreise der Avantgarde der Arbeiterbewegung als Ausweis gelungener Lebensplanung. Von der Rolex der Sawsan Chebli bis zur Glashütte Walter Steinmeiers über Christian Lindners Rolex Milgauss und Donald Trumps Patek Philippe Ellipse bis zu Che Guevaras Rolex Submariner und Wladimir Putins A. Lange & Söhne zeigt der tickende Armschmuck nach außen, wer es wie gut geschafft hat, seine biografischen Karten optimal auszuspielen. Emmanuel Macron befindet sich mit seiner Armbanduhr von Bell & Ross Luxurywatches in bester Geschmacksgesellschaft: Für viel kleines Geld zeigt er Unabhängigkeit sogar vom Geschmacksdiktat der Linken, die etwa Chebli zwang, zu einer Marke zu greifen, für die schon Fidel Castro und Erich Honecker geschwärmt hatten.

Erst vor laufender Kamera fiel der Präsidenten dann ein, dass der teure Zeitmesser, getragen unmittelbar vor der erneuten "Zeitumstellung" in der EU, die eigentlich längst dem russischen Vorbild hatte nacheifern wollen, das falsche Signal sein könnte. Macron handelte sofort: Für einige Momente verschwanden seine Hände unter dem Tisch. Und als sie wieder auftauchten, war der Platz am linken Handgelenk des Präsidenten leer.

Zaubertrick zur Zeitumstellung

Ein Zaubertrick zur Zeitumstellung, eine soziale Geste aber auch an die da draußen im Land, die den Wohlstandswecker in Anbetracht der Lage rund um die gescheiterte Einführung der EU-Einheitszeit  für eine höhnische Geste hätten halten können. Vorwürfe, er habe mit seinem Manöver unter dem Tisch Kritik an seiner Lebensführung verhindern wollen, ließ der französische Teil des europäischen Motors vom "Spiegel" umgehend dementieren: Die Uhr an seinem Handgelenk habe "Geräusche" verursacht, "als sie auf dem Tisch aufschlug". Nur um das Gehör der Zuschauer zu schonen, habe Macron sie "offenbar abgenommen" (Spiegel).

Samstag, 25. März 2023

Zitate zur Zeit: Starrsinn in Sachsen

Udo Schuster hat ein Leben lang getan, was ihm gesagt wurde. Jetzt entspannt sich die Lage.

Ich bin kurz vor dem Alter, in dem man seinem Starrsinn freien Lauf lässt.

Udo Schuster aus Schönwölkau in Sachsen hat noch 22 Monate bis zum Ruhestand

Volksmund: Falsche Zungenschläge

Rechte Populisten missbrauchen den ursprünglich in der Schweinezucht verwendeten Begriff des "Volkes" seit Jahrhunderten.

Zwischen seinen vielfältigen Friedensinitiativen, dem unerlässlichen Kampf gegen den Klimawandel und den mahnenden, aber immer auch ermunternden Reden, die Walter Steinmeier hält, fällt es meist  kaum auf. Doch der seit Jahren beliebteste Bundespräsident, den Krisendeutschland im Moment hat, zieht hinter den Kulissen an den langen Linien, er baut Leitplanken nicht nur für eine klimaneutrale Zukunft und nachhaltiges Erinnern, sondern auch für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Ein Mannschaftsspieler*in

Steinmeier, einst als Kanzlerkandidat gescheitert, seitdem aber ein  verlässlicher Mannschaftsspieler*in, der seine Position nicht nur hält, sondern sie eigenständig interpretiert, sieht sich als Reformpräsident. Er war es, der die Festbeleuchtung am Schloss Bellevue abschalten ließ. Er war es, der die deutschen Entsagungsbemühungen im Ringen mit Russland als "Beschwernisse"  historisch auf einer Ebene einordnete, die allen Beteiligten verdeutlichte, wie viel Glück gerade die heute schon Längerhierlebenden haben: Einerseits müssen sie nicht wie Opa und Uropa selbst in den Krieg. Andererseits bleibt es ihnen erspart, den Untergang der Welt durch die verfehlten Klimaziele jenseits des Jahres 2045 noch miterleben zu müssen.

Wenig kann ein Bundespräsident mehr tun, aber Walter Steinmeier tut es. Zuletzt reagierte der frühere Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragte für die Folterpraktiken der Nachrichtendienste auf einen dringlichen Hinweis aus dem Bundesamt für die Prüfung von Begriffen (BAPB), einer von der Ampelkoalition neugegründeten Behörde, die dem Bundesblogampelamt (BBAA) im mecklenburgischen Warin nachgeordnet ist. Das BAPB kümmert sich seit seinem Scharfhochlauf im November vergangenen Jahres um regelmäßige Checks der Alltagssprache. Falsche und gefährliche Worte und Bezeichnungen, die in Teilen der Bevölkerung vor allem in Sachsen und vor allem im privaten Bereich immer noch gebräuchlich sind, werden von sensitive readers aufgespürt. Sie sollen nach und nach gefunden und ausgemerzt werden.

Missbrauchte Volkabel mit falscher Bedeutung

In den Fokus der Prüfer rückte zuletzt das Wort "Volk", eine häufig von Rechtspopulisten, Rechtsextremen und Spaltern bemühte Vokabel, die einen künstlichen Gegensatz zwischen einem vermeintlichen "Staatsvolk" eines bestimmten Landes und Menschen zu schaffen versucht, die als Mitglieder*innen anderer "Staatsvölker" begriffen werden. Steinmeier hat hier nun mit dem konsequenten Ausräumen des Propagandawortes begonnen: Aus dem Text der Verleihungsurkunden für die Bundesverdienstkreuz verschwand die vom BAPB inkriminierte Volkabel. Stand da bislang bei sogenannten deutschen Staatsangehörigen "In Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste", wird es künftig "In Anerkennung der um die Bundesrepublik Deutschland erworbenen besonderen Verdienste" heißen.

Das "Volk" weicht, der Staat bleibt. Ein  klares Zeichen aus dem Bundespräsident*innenamt, das Schule machen soll - von den "Volksbanken" über selbsternannte linksnationalistische  "Volksküchen" bis zu linksradikalen und staatseigenen Firmen, die sich demonstrativ mit dem bei Rechten beliebten Volksbegriff schmücken und sich "Volkswagen" oder "Volksmund" nennen. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand, nach dem der Begriff "Volk" seine heutige fragwürdige Bedeutung im 9. Jahrhundert erhielt, als aus dem "Volk", mit dem Schweinehirten bis dahin die Gesamtheit ihrer schutzbefohlenen Tiere bezeichneten, durch Zugabe des Adjektivs "teotisce", "tiutiscae" oder auch "diutisg" das (vom germanischen Wort theudo - zu Deutsch deutsch) "deutsche Volk" wurde, geht es um entschlossene Rückabwicklung und Bedeutungsersatz.

Stamm als geheime Bezeichnung


Kein einfaches Unterfangen, das weiß auch Walter Steinmeier. "Theudo" etwa bezeichnete ursprünglich den "Stamm" oder eben auch "das Volk". Das deutsche Volk ist damit recht eigentlich das zum Volke gehörende Volk, eine verwirrende Matroschkabezeichnung, die Steinmeier auf seine bekannte entschlossene Art abschafft. Was aber ist mit - gerade bei Älteren immer noch gut bekannten - Begriffen wie "Volksmund", "Bienenvolk", "Volker" und "Volksgemeinschaft"? Eine Nutzung des verdünnten Wortersatzes "Bevölkerung", das in den 90er Jahren noch als ausreichend entideologisiert gegolten hatte, galt von vornherein als ausgeschlossen, da sich auch in dem Ersatzbegriff unübersehbar die Gefährdervokabel versteckt.

Die Bundesworthülsenfabrik (BHWF) in Berlin hat deshalb auf Initiative Steinmeiers in den zurückliegenden Monaten penibel nach Alternativen gesucht - und die Vokabelschleifer, Worthülsendreher und Begriffsdesigner wurden einmal mehr im Sportbereich fündig. Dort gilt die "Wurzel" bereits seit Jahren als sublime Möglichkeit, Unsagbares zu sagen zu wagen. Ein beinahe bizarr wirkender Kult ist mittlerweile um Kicker entstanden, die solche und möglichst viele "Wurzeln" haben. Wie "Ethnie" das unwissenschaftliche "Rasse" außerhalb der Nachzucht von Haustieren ersetzt hat, löste "Wurzel" die in den düsteren Zeiten der Geschichte vielbeschworene Volkszugehörigkeit positiv motivierend ab. Je mehr Wurzeln, desto interessanter.

Von Vorteil sei bei dem Wort, so hat BWHF-Chef Rainald Schawidow bei einem Hintergrundgespräch in Berlin kürzlich deutlich gemacht, dass es sich bedenkenlos zu einem einsilbigen "Wurz" einkürzen lasse, ohne an Erkennbarkeit zu verlieren oder verwechselbar zu werden. Dieses neugeschaffene "Wurz" könne dann bruchlos anstelle von "Volk" verwendet werden, um bedenkliche Begriffe zu ersetzen: "Wurzmund" und "Wurzbank", aber auch "Wurzgemeinschaft", "Wurzer", "Wurzwagen" und "Wurzbildung", ja, sogar "Wurzfürsorge", sie erschaffen ein neues Innenbild ohne die gefürchtete regressive Gewalttätigkeit des kollektivierenden Vorgängerbegriffs, der Millionen ausschloss. 

Der Termin für die Umstellung ist in der Amperekoalition noch umstritten. Die FDP legt sich quer, der Kanzler hat Zustimmung bekundet, die Grünen aber drängen auf rasches Handeln. Ist die Kuh vom Eis, dürfte es dann aber schnell gehen und die Lösung wäre in trockenen Tüchern.

Freitag, 24. März 2023

Gestohlene Zukunft: So schrecklich steht es wirklich

Schlimme Nachrichten vom Fortschritt: Er lahmt wegen des globalen Kapitalismus.

Verdammter Kapitalismus! Verdammte Industrialisierung. Verdammte Globalisierung. Immer mehr Menschen weltweit werden immer älter, immer mehr Menschen können Lesen und Schreiben und immer mehr sind deshalb in der Lage, ihre eigene schlimme Situation einzuschätzen: Es steht es übel um den Fortschritt, der Planet wird zugunsten einiger weniger Menschen ausgebeutet, Bildung und Gesundheit scheinen zwar weltweit gestiegen zu sein. Doch wer hat wirklich etwas davon?

Immer länger konsumieren

Nur der Kapitalist, der sich daran erfreut, dass mit steigender Lebenserwartung immer mehr Menschen immer länger gezwungen sind, immer mehr Waren zu konsumieren. Großverlage und Internetgiganten frohlocken zudem angesichts einer Alphabetisierungsrate, die im zurückliegenden Jahrhundert förmlich explodierte. Ohne dieses gestiegene Vermögen der Menschen, Lesen zu können, wären Datenmonster wie Facebook oder Twitter nicht lebensfähig, Magazine wie "Der Spiegel" oder Tageszeitungen wie die "Süddeutsche" fänden kaum ein Publikum und selbst die knappen Ankündigungstexte der Meldungen in der "Tagesschau" blieben für den Großteil der Zuschauer ein Buch mit sieben Siegeln.

Es ist die Schattenseite einer vermeintlichen Verbesserung der Situation, die von Daten des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty beleuchtet wird. Auf den ersten Blick scheint die Grafik (oben) zu zeigen, dass die wesentlichen Fortschritte im 20. Jahrhundert erzielt worden sind. Bei genauerer Betrachtung aber fällt auf, dass der steile Anstieg der Lebenserwartung zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems liegt. Mit dem Abschied des Kommunismus von der Weltbühne nahm die Alphabetisierungsrate zwar noch einmal rasanter zu. Das Wachstum der durchschnittlichen Lebenserwartung aber hatte seine besten Zeiten bereits erlebt. 

Offenbarungseid des globalen Kapitalismus

Offenbar ist der globale Kapitalismus zwar in der Lage, die Menschheit Lesen und Schreiben zu lehren - womöglich, weil nur so neue Nutzer für die globalen Datenkraken zu gewinnen sind. Der Zuwachs an Bildung aber führt nicht mehr automatisch zu einem steilen Anstieg der Lebenszeit, die den Opfern des marktwirtschaftlichen Konkurrenzsysteme vergönnt ist. 

Piketty verweist zur Erklärung der offenkundigen Diskrepanz zwischen dem anhaltenden Zuwachs an Bildung und dem verlangsamten Anstieg der Lebenserwartung auf den starken Ausbau des Sozialstaats und die Einführung progressiver Steuern in vielen Staaten im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts. Das Phänomen des Grenznutzens wird hier deutlich: Wo es gut ist, wird es immer schwerer, es besser zu machen. Wo schlecht steht dagegen, wäre es einfacher, aber weil selbst in den Kernstaaten des Kapitalismus die Zweifel am eigenen System wachsen, reicht die Strahlkraft des westlichen Wirtschaftsmodells nicht mehr aus, Nachahmer zu begeistern.

Begeisterung fehlt

Gerade dort, wo es am nötigsten wäre, lahmt der Trend am meisten. Europa, selbst über die EU hinaus, hat die höchste Lebenserwartung aller Kontinente, wobei das kleine San Marino mit durchschnittlich 85 Jahren noch heraussticht. Alle Staaten mit der niedrigsten durchschnittlichen Lebenserwartung aber liegen in Afrika - ein deutlicher Hinweis, was eine weitere ungebremste Klimaerwärmung auch im Abendland anrichten würde. So liegt die Lebenserwartung in der Zentralafrikanischen Republik, in der das Thermometer im Jahresdurchschnitt 33 Grad zeigt, bei lediglich 54 Jahren - beinahe 20 Jahre niedriger als weltweit. Hier bleibt dann auch wenig Zeit, Lesen und schreiben zu lernen: Nicht einmal 40 Prozent der Zentralafrikaner können das. Ein Armutszeugnis für das Kapital.

Heizungsverbot: Knieweich im Chaos


Das Klima will es. Das CO2 will es. Die völkerrechtlichen Verträge wollen es auch. Robert Habeck, der als Wirtschafts- und Klimaminister zugleich agiert, blieb gar keine andere Möglichkeit als mit dem Bundesheizungsverbot eine zwar schmerzhafte, aber radikal richtige Lösung für Deutschlands Immobilienbesitzer und Mieter*innen zu wählen. Es ist die Pflaster-Methode: Lieber gleich und schnell und mit einem kurzen, aber intensiv empfundenen Schmerz. Als lang und breit und am Ende vielleicht sogar zu spät, um das Weltklima wie seinerzeit in Paris vereinbart in seinem momentanen Zustand zu bewahren und für künftige Generationen zu sichern.

Im Dienst der Zukunft

Svenja Prantl empfiehlt Ruhe als Bürgerpflicht.
PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl warnt vor, dem Panikorchester auf den Leim zu gehen und nach der Flöte der Rattenfänger zu tanzen, die vor hohen Kosten, Stromarmut und dem Verlust von Wohlstand bei denen warnen, die dieses Land angeblich aufgebaut, aber in Wirklichkeit vor die Wand gefahren haben.

Es wird nicht so schlimm kommen. Es kommt nie so schlimm. Die Ankündigung, den Einbau neuer Öl- und Gasheizungen ab nächstes Jahr nicht mehr zu erlauben, hat Ängste freigesetzt. Die Grünen sehen sich von SPD und FDP als Verbotspartei vorgeführt, die Oma ihr klein Häuschen wegnehmen will. Liberale schäumen über Habeck als deutschen Putin mit einem Hang zur Alleinherrschaft. Der Kanzler schweigt und genießt, dass es mal nicht um ihn geht, um schwere Waffen, die Verstrickungen der deutschen Sozialdemokratie in den weltweiten Wandel durch Annäherung und das komplette Scheitern seines Inflationsbekämpfungsprogramms durch eine "konzertierte Aktion", die sich demnächst jähren würde, wäre sie jemals wahr geworden.

Der Anlass aber ist die Wut nicht wert. Dass Robert Habeck bereits ab kommendem Jahr den Einbau von klimaschädlichen Erdöl- und Erdgasheizungen verbieten lassen will, heißt doch wirklich nicht, dass bundesweit Millionen installierter Erdöl- und Erdgasheizungen aus den Kellern und von den Wänden gerissen werden. Es heißt nicht einmal, dass wirklich keine Gas- und Ölheizungen mehr verbaut werden dürfen. Wer sich an Habecks letzten Heizungsplan aus dem letzten Sommer erinnert, weiß, dass beim "Anti-Politiker" (Heyne-Verlag) nicht so heiß gekocht wird, dass ein Essen daraus werden muss.

Der verschwundene Heizung-Check

Damals, im ersten Kriegsjahr, hatte der frühere Grünen-Chef eine große Bundesheizungsinventur angeordnet. Beim verbindlichen "Heizungs-Check" würden Millionen Systeme noch vor dem Beginn der sozial kalten Jahreszeit weltklima- und gaskrisengerecht für den ersten Winterohnegas optimiert werden, hieß es zur neuen Pflicht zum "hydraulischen Abgleich". Ist danach irgendetwas passiert? Ist irgendwo eine Fachkraft aufgetaucht, um routinemäßig Luft abzulassen? Und war das schlimm?

Genau. Wie beim Verdunklungsgebot, mit dem die Bundesregierung wenig später anwies, dass Leuchtreklamen, Schaufenster und selbst Lichtzeichen, die nicht zwingend zur Sicherheit beitragen, ab 20 Uhr ausgeschaltet werden müssen, war das entscheidende an den Maßnahme ihre Ankündigung. Später folgten weder Durchführungsverordnungen noch der Erlass von Kontrollanweisungen. Wie bei vielen Corona-Beschränkungen durfte man sich daran halten. Aber niemand musste.

Die Geduld ist endlich

Wird es nun bei der Zwangsumwandlung von gut laufenden Gasthermen in moderne Wärmepumpen und in der Verwandlung abgezahlter Einfamilienhäuser in neue dicke Hypotheken genauso kommen? Niemand weiß das heute schon genau, aber die Chance ist groß, dass es nicht so schlimm kommen wird. Und noch größer ist die, dass es, wenn es doch so schlimme oder noch schlimmer kommt, gleich danach besser werden wird: Natürlich kann eine Regierung eine ganze Zeit lang gegen die Interessen eines großen Teils ihrer Wähler handeln. Eine Partei kann das sogar noch viel länger. Aber sie tun es beide um den Preis des Machtverlustes und mit dem Risiko des eigenen Untergangs.

Je länger, desto größer wird die Gefahr, dass der Verweis auf Rekordgewinne bei Öl- und Gasmultis, die Deutschland schon lange nicht mehr, und die Schädlichkeit der Nutzung fossiler Energien nicht mehr ausreichen, die Opferbereitschaft derer zu befeuern, die vor einem Jahr mit ein wenig Glück noch  Fördermittel für den Einbau eines sparsamen und überaus umweltfreundlichen Brennwertheizers vom Bund abgegriffen hatten. Schon wieder blechen, diesmal gleich auch noch für Fußbodenheizung, Solaranlage, Wallbox, einen E-VW und einen warmen Mantel aus Steinwolle für das Eigenheim? Dort, wo nach Jahren der "zunehmenden Armut" (Tagesschau) noch Reste des Mittelstandes mental darauf eingestellt sind, die letzten Jahre ihres - verglichen mit heute viel zu arbeitsreichen - Lebens zu genießen, ist die Geduld endlich.

Populistischer Gegenwind

Ein Populist wie Friedrich Merz setzt auf diese Ängste, obwohl es seine Partei war, die mit ähnlichen Methoden ein anderes Kapitel der Technikoffenheit zuschlug, notdürftig verbrämt als "wesentlichen Teil des Programms für mehr Klimaschutz", mit dem die Union über Jahrzehnte schöne Trugbilder von der Rettung des Planeten produzierte. Das ist wenig überraschend, da Merz aus der fossilen Weltwirtschaft kommt, die am Tropf der Abhängigkeit der Menschen von Erdöl- und Erdgas hängen.

Den Umstand, dass sich viele den Einbau einer Heizung mit erneuerbaren Energien und eine Anlage für den Bezug von Ökostrom vom eigenen Dach nebst eigenem Speicher und dicker Dämmung nicht leisten können, nutzt der frühere Blackrock-Manager gezielt aus, um Stimmung gegen die Energieverschwendung in den 15 Millionen deutschen Einfamilien- und Reihenhäusern zu machen. Dabei zielt er auch auf die Millionen ungedämmten Mehrfamilienhäuser ohne Luftheizpumpe, die nach wissenschaftlichen Schätzungen 250 Millionen Kubikmeter Heizgas im Wert von 500 Millionen Euro jährlich mehr in die Luft blasen als nötig wäre, wenn sich Deutschland entschlösse, die zwei Billionen Euro Sanierungskosten jetzt und sofort aufzubringen. 

Ja, das würde weh tun, gerade denen, die wenig oder nicht viel oder nicht genug haben. Aber das Heftpflasterprinzip rät dazu: Wer mittelfristig bis zu 37 Prozent des aktuellen Heizenergiebedarfs einsparen kann, was exakt 59,8 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr entspricht, muss gleich handeln, nicht nächste Woche. Das Herumgeeiere des Klimaministers in der Frage, wer die notwendigen Pläne warum an wen geleakt habe, ob sie schon fast fertig oder noch am Ende ganz anders ausfallen werden, lenkt vom Kern des notwendigen Heizverbotes ab: Robert Habeck darf jetzt keinen Rückzieher machen, auch wenn es ihn und seine Partei das Wichtigste kostet, den Platz an der Macht, an den Schalthebeln, auf der Startrampe zur ersten grünen Kanzlerschaft.

Sonst wird er später als Alleinschuldiger an der Klimakatastrophe in die Geschichte eingehen.

Donnerstag, 23. März 2023

Besserererer Impfstoff: Angepasste Variante

Aus dem Leid Schlagzeilen quetschen und mit dem Elend Karriere machen. Nie war das so einfach.
 
Dort, wo der Hass in Klicks gemessen wird, wo aus dem Sterben und dem Tod automatisiert Umsätze generiert werden und Blut und Leid und menschliche Dramen der Unterhaltung dienen, hat sich die große Menschheitsseuche schon vor Monaten in einen jener Köder verwandelt, die im Gewerbe mit dem Grauen zum Handwerkszeug gehören. Hier erfasst "ein 29-Jähriger ein elfjähriges Kind". Dort stirbt ein "ehemaliger Olympiasieger" an Corona: "Der Impfskeptiker hatte seine Impfung zu lange hinausgezögert." Selbst schuld, dass er tot ist!

Immunschutz für die Massen

Womöglich wartete er auf die nächste Ladung des "angepassten Impfstoffes", von dem in den ersten beiden Pandemiejahren unentwegt die Rede war. Angepasst, verbessert, aber immer absolut nebenwirkungsfrei - der damals in weiten Teilen von Medien und Bevölkerung außerhalb Sachsens noch als gewiefter Seuchensteuermann geltende Bundesgesundheitsminisiter Karl Lauterbach stieg am liebsten selbst in die Bütt, um den um ihren "Immunschutz" (Lauterbach) bangenden Massen die frohe Botschaft zu verkünden.
 
Es werde auch diesmal ein angepasster und verbesserter Impfstoff kommen. Dieses neue Vakzin werde ein "bivalenter mRNA-Impfstoff" sein, der eigens auf Delta oder Omikron zugeschnitten sei. Das Stöffchen befinde sich mitten in der Entwicklung. Und anschließend werde es gut nicht nur zum Boostern sein, sondern für alle und alles, vom Greis bis zum Kind. Denn es löste "im Vergleich zu den bisherigen monovalenten mRNA-Impfstoffen eine verbesserte Antikörperantwort gegenüber verschiedenen Omikron-Varianten aus", erzielte aber "gegenüber dem Wildtyp-Virus eine gleichbleibend gute Antikörperantwort", wie die in jenen verrückten Tagen noch vielbeachtete Ständige Impfkommission mitteilte. 

Nationale Impfziele

Die Bundesregierung hatte damals "Impfziele" (BWHF) und sie scheute sich nicht, sie gegen Zweifler und Verweigerer mit harter Hand durchzusetzen. Es gab millionenteure Impfkampagnen, die der Kanzler selbst vorstellte. Die großen Medien rechneten die Tageszahlen durch und teilten, was es an Neuigkeiten aus den Labors von Biontech und Moderna oder aus der Zulassungsbehörde Ema gab. Gute Nachrichten für die Grundimmunisierung. Gute Nachrichten auch für alle anderen. Wenn nur alle recht fleißig mitmachen, veranlasst der neue Impfstoff bald bundesweit alle Körperzellen, für kurze Zeit ein Virusprotein zu produzieren, an dem das Immunsystem seine Abwehr trainieren. 

Damals noch, im  Herbst und Winter vergangenen Jahres, wurden Varianten von Varianten prozentual nach höheren Ansteckungsraten analysiert. Nach Delta und Omikron kamen keine neuen "Mutanten" (Lauterbach) mehr, aber das Spike-Protein blieb dennoch nicht in jeder Virusvariante identisch. Gefürchtet waren die "Omikron-Sublinien" (Spiegel), die sich "deutlich von der ursprünglichen Form" unterschieden, aber dennoch keinen eigenen neuen Namen bekamen, sondern sich mit "BA.1", "BA.4" und BA.5 bescheiden mussten. Selbst einer besonders "hochansteckende Corona-Variante", die sich Anfang des Jahres von den USA aus verbreitete, blieb das Privileg eines eigenen schrecklichen Namens versagt. Als "XBB.1.5" kam sie. Sie erzeugte Warnungen vor einem empfindlichen Übel, das drohen könnte, wenn. Und schließlich verschwand sie, wie sie gekommen war.

Neue Varianten statt neuer Mutanten

Wie die Erzählung über "neue Mutanten" zu der über "neue Varianten" wurde, verwandelte der um sein Amt bangende Bundesgesundheitsminister seine Warnungen vor gewaltigen Viruswellen, die kommen würden, wenn nicht bald jeder "immunisiert" (Lauterbach) sei, in Warnungen vor unheilbaren Folgen fahrlässig eingefangener Infektionen. Es sei längst nicht Zeit, die erlassenen Maßnahmen "überstürzt" aufzuheben, lautete die allerletzte dringende Mahnung des SPD-Politikers, der dem neuartigen Lungenvirus und nur dem neuartigen Lungenvirus seinen Aufstieg in ein Ministeramt verdankt.

Wäre es nach ihm gegangen, die "neue Normalität" (Olaf Scholz) hätte nie enden müssen. So aber war Karl Lauterbach gezwungen, sich selbst langsam auszublenden. Der Kanzler und der Hofvirologe, die Behördenchefs, die als Stichwortgeber fungiert hatten, der Amtsvorgänger und die Ethiker, sie alle waren schon vom Hof geritten, als Lauterbach im Januar die Tore schloss. Eine allerletzte dringende Warnung noch hinterließ er kommenden Generationen Infizierter. 

Nun endlich kommt Arcturus

Seitdem lässt Karl Lauterbach das Thema links und rechts liegen. Der Minister ist nun selbst eine an die neuen Umstände angepasste Variante. Weder die neue Variantenvariante XBB.1.16, die vielversprechenderweise den drohenden Namen "Arcturus" erhalten hat, noch die langsam überfällige Ankündigung angepasster und weiter verbesserter Impfstoffe vermochten es, den Pandemieminister hinter dem Omikron-Ofen hervorzulocken. Lauterbach warnt weiter, selbstverständlich, aber nun lieber vor Krankenhausreformen und Panikmache und Alleingängen und  Leuten, die behaupten, er habe behauptet, die Impfung sei nebenwirkungsfrei. Oder unbedenklich. Hat er gar nicht mehr! Selbst sein eigener Impfstatus ist wieder Privatsache. Hat er schon die vierte? Den fünften Booster? Oder ist auch sein Impfschutz abgelaufen und die "Immunisierung" nach EU-Regeln hinfällig?

Das Bundesimpfdashport, eine verrückte Erfindung der Maßnahmenzeit, zählt derweil immer noch verabreichte Impfdosen, verzichtet aber zur Stärkung des Glaubens aller an alles weiterhin darauf, ehemals Geimpfte, deren Impfstatus mangels dritter, vierter und fünfter Boosterung längst abgelaufen ist, wieder als ungeimpft auszuweisen.



Klimahauptstadt: Berliner Luftschlösser

In Berlin ziehen sie traditionell heiße Luft auf Flaschen.
Es ist die Angst, die die Abstimmung erzwingt. Die Angst vor einer Welt, die wärmer wird, vor einem Land, das nicht mehr Gurken und Tomaten züchtet, sondern Bananen und Orangen. Vor einer Stadt schließlich, die zwar weiterhin Berlin heißt. Aber so heiß ist wie Barcelona oder Palermo, zwei weit südlich gelegene Städte, die wegen des Klimawandels seit Jahren als unbewohnbar gelten.  

In Berlin, der deutschen Hauptstadt, von der aus nicht nur die Geschicke von 84 Millionen Hierlebenden, sondern auch die von 440 Millionen EU-Europäern, 44 Millionen Ukrainern und den übrigen acht Milliarden Erdenbürgern gelenkt werden, die auf ein deutsches Voranschreiten bei Klimaschutz und CO2-Einsparung hoffen, möchte man es nicht soweit kommen lassen. Die Hauptstadt möchte sich das Schicksal von Miami, Machu Pichu und Madrid ersparen, Städten also, die bedingt durch ihre Lage weit südlich heute schon die Temperaturen zu ertragen haben, die Berlin erst für die Mitte des Jahrhunderts gewärtigen muss. Das glühende Pflaster des Ocean Drive in Miami, der kochende Asphalt des Paseo del Prado in Madrid - kein Berliner will das wollen.

Auf kochendem Asphalt

Seit auch die Ziele des Pariser Abkommens obsolet geworden sind, weil niemand sie erreicht hat, so dass alle Anstrengungen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5°C im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten nicht ausreichen werden, kommt es noch mehr auf jede einzelne menschliche Siedlung an. Weil zuletzt Millionen Kiloattstunden gesunder Windstrom mangels Bedarf weggeworfen werden mussten, braucht es einerseits mehr und größere Windkraftanlagen, um noch mehr davon zu erzeugen. 

Andererseits aber sehnen sich zahlreiche Verbraucher im In- und Ausland vor allem nach einem  Klimavorbild, das zeigt, wie sich schneller Energieausstieg, beschleunigter Wohnungsbau, Ersatz aller Heizungen, Ausstieg aus dem Individualverkehr und Verlagerung der Industrieproduktion nach Übersee bei raschem Ausbau der Zuwanderung auch aus rückständigen Siedlungsgebieten wie Sachsen und Thüringen miteinander vereinbaren lassen.

Immer ein Leuchtturm

Berlin, in seiner Geschichte immer wieder ein Leuchtturm des Fortschrittes, schreitet unnachgiebig voran, um wie vor knapp 800 Jahren wieder klimaneutral zu werden. Vor Jahren schon verordnete sich die urbane Stadtgesellschaft mit dem Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz (EWG Bln) einen gesetzliche Handlungsrahmen, um die nötige Reduktion von Treibhausgasemissionen auf dem Pfad zum 1,5-Grad-Ziel klar festzuschreiben. 

Keine Wegmarke konnte bisher erreicht werden. Selbst in den gelähmten Corona-Jahren gelang es den Hauptstädtern, ihren "CO2-Verbrauch" (Annalena Baerbock) noch weiter vom vorindustriellen Niveau zu entfernen. Das bisher von allen Berlinern und ihren Gästen angestrebte Zieljahr 2045 für ein treibhausgasneutrales Leben rückt damit ein weiter Ferne - sieben Jahre sind schon vergangen, seit das EWG Bln verabschiedet wurde. Nichts ist erreicht. Zeit für schärfere Maßnahmen.

Kein Fußabdruck mehr

Ganze 15 Jahre schneller soll es nun gehen, bereits ab 2030 sollen 3,7 Millionen Berlinerinnen und Berliner keinen ökologischen Fußabdruck mehr hinterlassen. Wie ein Hochspringer, der stets an der Latte scheitert, die auf 1,20 Meter liegt, und sich deshalb vornimmt, als nächstes dann eben gleich 3,80 Meter zu überspringen, fordert ein Volksbegehren einen Klimaneustart für Berlin. 

Wie immer sollen die - verfehlten - Reduktionsziele nicht nur angepasst, sondern "verschärft" (DPA) werden. Wie immer wird an der Jahreszahl der Zielankunft geschraubt. Wie immer gibt es keinerlei Hinweis, wie auch nur eine Tonne CO2 eingespart werden kann. Aber die Vision, eine "rechtsverbindliche Verpflichtung" werde die ersehnte "Klimaneutralität" schon irgendwie herbeizaubern: Weiß der Hochspringer erst, dass es für ihn unumgänglich ist, 3,80 Meter zu überwinden, muss er das ja tun, ob er kann oder nicht.

Kipppunkte in Preußen

Es liegt nun an den Berlinerinnen und Berliner, zu entscheiden, ob die Menschheit weitere "Kipppunkte im Erd-Klimasystem" (Volksentscheid) überschreiten wird. Oder ob sie zur Vernunft kommt und nicht nur die "Bedeutsamkeit von adäquatem Klimaschutz für die Verhinderung weiterer Pandemien" einsieht, sondern auch die Notwendigkeit begreift, "der Zunahme sozialer Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken". Stimmen die Berliner zu, wird es bald statt willkürlich definierter Minderungsziele ein faires Budget  verbleibender möglicher Emissionen geben, das die globale Erderhitzung deutlich unter 2°C hält. 

Berlin, die Stadt, die in 14 Jahren einen ganz kleinen Flughafen baute, ihre Wohnungsbauvorhaben traditionell verfehlt und ihr S-Bahnnetz seit 100 Jahren nicht fertigbekommt, nimmt sich da sicherlich nicht zu viel vor. Noch ohne Landesregierung, aber frohen Mutes könnten sie ein Beispiel für die Welt geben und die Klimaziele radikal anpassen: Aus der Absicht, eine Minderung des Treibhausgasausstoßes von mindestens 95 Prozent bis 2045 zu erreichen, könnte die deutliche Ansage werden, 100 Prozent bis  2030 zu erreichen. Zack. Fertig.

Gegen die Realität

An Ideen, wie das genau gehen soll, in einer Realität, die sich den Wünschen der Menschen so oft grausam und brutal entgegenstellt, wird in der Stadt der Künstlernden, der Malenden, Musizierenden, Dichtenden, der Philosop*innen, Forschenden und Politikerseienden kein Mangel herrschen. Berlin, ein Start Up von einer Stadt, könnte bald sogar mehr umweltfreundliche Energie erzeugen, als es selbst verbraucht. Mit Generatoren, die von den Finanzströmen von und nach Brüssel gespeist werden. 

Mit Windrädern, in die Tag und Nacht die heiße Luft der Bundestagsreden, Ministerstatement und Talkshows weht. Mit Solarzellen, die das Schweigen der Politik zu zentralen Zukunftsfragen beleuchtet. Mit naturnahen Brennplätzen, auf denen die Polstersessel der bald überzähligen Bundestagsabgeordneten verfeuert werden. Mit Fahrraddynamos für alle Pendler*innen, deren erzeugte Energie drahtlos in die grünen Netze fließt. Die Spree könnte Wasserräder antreiben, die Berliner Luft Onshore-Anlagen mit Rotorachsen in konsequenter Linksausrichtung. Als Energiespeicher kommen Papierspeicherwerke infrage, eine Technologie, die schon lange bekannt ist, bisher aber noch  nirgendwo konsequent genutzt wurde: Sämtliche Vorschriften, die die kommende Klimaneutralität rechtsverbindlich verpflichtend beschreiben, werden als persönliches Leseexemplar für jeden der 3,7 Millionen Berlinernden ausgedruckt. 

Nach Zielerreichung könnte der Zelluloseberg klimaneutral den Flammen übergeben werden. Der Bebelplatz böte sich für die Zeremonie an.

Mittwoch, 22. März 2023

Heute Deutschland, morgen der ganze Planet

Am deutschen Wesen soll der Planet genesen.

Als Heiko Maas, die Älteren erinnern sich, damals auf dem Höhepunkt des Niedergangs seiner vielversprechenden Politikerkarriere ein schwarzes Hemd und einen schwarzen Schlips kombinierte, um den einstigen Achse-Partner Italien von den Nazis geraubte Kunstwerke zurückzuerstatten, klang zumindest optisch wieder deutsche Marschstiefel auf Florenzer Straßen.  

Maas, den es "wegen Auschwitz" in die Politik verschlagen hatte, trug dort, wo Faschisten früher schwarze Hemden trugen, ein schwarzes Hemd. Er wusste es nicht besser, woher auch, denn bei alldem Erinnern, das zum Berufsbild gehört, bleibt kaum Zeit, zu wissen, was man tut, wenn man den Italienern in deren eigenen Nazikostümen die Aufwartung macht oder als deutsches Regierungsmitglied in Paris vor dem Eiffelturm posiert. Also dort, wo sich Ende Juni 1940 ein deutscher Kanzler hatte ablichten lassen.

Die Mission, die Welt zu retten

Sie sind jung, sie brauchen die Aufmerksamkeit. Und: Sie sind überzeugt, auch das zu wissen, wovon sie nicht einmal ahnen, dass es existiert. Maas, Baerbock, Habeck, der sich im Land der Indios als "Häuptling" aus Dschungeldeutschland vorstellt - sie sind erfüllt von der Mission, der Welt zu bringen, was sie braucht. Deutsche Einsichten. Deutsche Reue. Deutsche Lehren. Deutsches Vorbild. Dichtete der seinerzeit noch jugendliche Lyriker Hans Baumann vor 90 Jahren "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt"sind die Ansprüche inzwischen bescheidener. Aus "gehört" wurde "hört", nur die Welt aber soll es immer noch sein. Wahlweise kommt, wie der seit Jahren als Aktivist auftretende frühere "Spiegel"-Kolumnist Georg Diez freilich auch der "Planet" infrage.

Die Welt ist nicht genug. Eine "planetare Politik" müsse her, fordert der Wanderprediger des Verzichts, der seine Karriere bei der Süddeutschen begann, zur Frankfurter wechselte, bei der "Zeit" schrieb, dann beim Spiegel landete, schließlich bei der Taz parkte und nun wieder als Bedenkenträger bei der "Zeit" wirkt. Eine Lokalrunde durch Zeitungsdeutschland, die Diez' Ansprüche an die Menschheit sichtlich hat wachsen lassen. "Wir müssen unsere Weltsicht fundamental ändern", hat er eruiert, denn "Klimawandel, technologische Entwicklungen und Pandemien zeigen, wie verletzlich und vernetzt unser Leben ist". Da reiche es nicht einmal mehr, "global zu denken". Nein, "planetar" muss es sein, denn es gilt nun, dass "große Antworten gefunden werden müssen, die dann einer präzisen Umsetzung im Kleinen bedürfen" (Diez). 

Keiner macht mehr seins

Vorbei die Zeit, als jeder seins machte, der eine so, der andere ganz anders. Schweden ohne Lockdown, Kanada und die USA ohne Impfpflicht für alle. Deutschland ohne Tempolimit. Belgiens mit einem 230-V-Drehstromnetz ohne Neutralleiter, Teile Brasilien mit 110 Volt. Großbritannien mit Unzen, Pfund und Fuß. Polen mit dem Zloty. Aus der Vorstellung, zuerst werde aus der EU ein eigener Staat, von Brüssel aus regiert und in den 27 Provinzen heiß geliebt, ist die Vision geworden, gleich den ganzen Planeten mit einer Hand zu regieren.

Impfkampagnen, medizinische Aufklärung oder Reisebeschränkungen sollten weltweit organisiert werden, die Einschränkungen im Alltag oder gar die Schulschließungen, die nun mehr und mehr als Fehler erscheinen, sollten dagegen so spezifisch wie möglich geregelt werden", empfiehlt der Denker Diez. Mag auch vieles falsch gewesen sein, beim nächsten Mal wäre es dann wenigstens überall falsch und niemand hätte mehr jemandem etwas vorzuwerfen. "Damit ist die Pandemie ein gutes Beispiel dafür, dass wir unsere Politik radikal anders organisieren müssen."

Der planetare Lehrmeister

Es schwant dem planetaren Lehrer, dass China, Indien, Indonesien, ja, selbst die Wertepartner in Australien, Japan und den USA vielleicht noch nicht bereit sind, guten Rat aus Deutschland anzunehmen. Deswegen brauche diese "neue Vorstellung von Politik eine neue Vorstellung von Welt", die dem entspricht, was im Wolkenkuckucksheim der Bionadeburgen, in denen die Vorkämpfer für globale Gerechtigkeit und planetares Gedöns leben, als "die realen Gegebenheiten" gilt. Aus München, schon einmal Hauptstadt einer Bewegung mit planetarem Anspruch, kommt vom Gelegenheitsträger schwarzer Hemden eine klare Handlungsempfehlung: "Das Konzept der Welt, das auf Menschensicht beruht, muss ersetzt werden durch jenes des Planeten, des Planetaren, also die Gesamtheit dessen, was als Lebendiges oder auch Nicht-Lebendiges auf dieser Erde existiert."

Das Gras soll mitreden, die Kuh, der Baum, die Bahnschiene, der Küchenschrank, das schwarze und das weiße Hemd, Toilettenpapier und Bleistift, Hase, Igel, Fuchs und Wolf, die Viren selbstverständlich, aber auch die Bakterien und die Impfstoffe, die Autos, Autobahnen, Kanzlerämter und Spionagesatelliten. Die Klimakatastrophe habe klargemacht, "wie die bisherige Konzeption einer menschenzentrierten Welt an ihre Grenzen gekommen ist", schreibt Georg Diez in seinem Traktat, das die Menschheit aufrütteln soll. "Wir können nicht ewig die Natur ausbeuten, geschweige denn beherrschen, ohne uns selbst als Spezies in Gefahr zu bringen. Und wir können nicht mit einer Art von Politik, die radikalen Individualismus fördert, auf komplexe Probleme reagieren."

Eine neue Form von Kommunismus

Die "neue Form von Politik, die der planetaren Form der Wirklichkeit entspricht", sie ist Ansätzen bereits erkennbar. Die Nationalstaaten werden weichen müssen, eine Weltregierung, bisher stets als irre Verschwörungstherorie verlacht, muss die neue "Organisationsform für Politik und der Rahmen für eine Rechtsstaatlichkeit" sein, die das planetare Kollektiv vor der Egoismus des Einzelnen setzt. Niemand hat die Absicht, die unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte auszusetzen oder sie gar abzuschaffen. Doch auf dem planetaren Planeten des Georg Diez werden sie schon ein ganzes Stückchen zurücktreten müssen hinter die notwendigen Maßnahmen, "um die Probleme anzugehen, die Mensch und Planeten bedrohen".

Manchem mag bei dem Gedanken schummrig werden.  Aber woran, wenn nicht am deutschen Wesen, soll der Planet denn genesen.