Montag, 26. Mai 2025

Die Infantilen: Kinder an der Macht

ACAB-Pullover und Eat-the-Rich-Cap von AliExpress für 5,59 Euro.
ACAB-Pullover und Eat-the-Rich-Cap von AliExpress für 5,59 Euro.

In den ersten Momenten nach der Bundestagswahl waren die Fehlstellen groß. So viele waren nicht  mehr da, die in den zurückliegenden Jahren als Quell steter Freude zuverlässig geliefert hatten, was draußen im Land so sehr ersehnt wurde. Humorvolle Auftritte, zugespitzte Aussagen, schonungslose Ansichten - die Jahre der Merkel-Regierungen, mehr aber noch die Ära des darauffolgenden Ampel-Kabinetts waren eine Zeit allerbester Unterhaltung.  

Die verschwundenen Gesichter

Dafür sorgten so bunte Charaktere wie Peter Altmaier und Karl Lauterbach, Ricarda Lang und Robert Habeck, Saskia Esken, Kevin Kühnert und Hubertus Heil, aber auch ihre Gegenspieler Christian Lindner, Alice Weidel und all die anderen großen und kleinen Darsteller aus dem politischen Berlin. Sie waren - neben einer Kompanie von höchstens 30 anderen Frauen und Männern - das Gesicht der Berliner Republik. Ihre Auftritte bewegten die Massen, ihre Ansagen spalteten, ihre gegenseitigen Beschimpfungen und Unterstellungen sorgten für allerbeste Unterhaltung.

Der Bruch war heftig, die Aussichten waren traurig. So viele große Namen fehlten plötzlich. So viele neue Gesichter waren zu lernen, Funktionen zu begreifen, und Positionen zu verstehen. Von früheren Medienaktivisten wie Lang, Kühnert, Merkel und Maas und ihren Zeitgenossen wusste jeder, was von wem zu halten war. Auch die neue Mannschaft im Hauptstadtviertel setzt zwar auf bewährte Kader, gewaschen mit allen Talkshowwassern. 

Doch dazu stießen viele unbekannte Namen, die bis dahin nur Spezialisten bekannt waren. 230 Abgeordnete im Bundestag sind neu, kein tabula rasa, aber auch kein stabiles Weiterso. Für die Neuen steht als erste Aufgabe, sich als Figuren in die tägliche Politsoap einzuführen, um die möglichst schnell kein Weg mehr herumführt.

Von der Schulbank ins Hohe Haus

Timon Dzienus, einem blutjungen Grünen, der direkt von der Schulbank ins Hohe Haus eingezogen war, gelang es als Erstem, sich zu etablieren: Der Junge aus Nordhorn zog eine Antifa-Flagge schwenkend zu seiner ersten Parlamentssitzung, er kampierte anschließend im Sitzungssaal und leistete schon bei der ersten Gelegenheit antifaschistischen Widerstand, indem er eine Entspannungspause in der Kantine machte statt den Ausführungen eines Politikers einer anderen Oppositionspartei zuzuhören. selbst der Linken-Politiker Luke Hoß blieb da nur der Weg zum "Focus", um frischen Wind in den Bundestag zu bringen.

Für eine Hauptdarstellerin wie Jette Nietzard, die Fernsehteams zwar im Bundestag empfängt, als Chefin der Grünen Jugend aber keinen Sitz im Parlament hat, ist es unter diesen Bedingungen eine Herausforderung, auf sich aufmerksam zu machen. Natürlich, wer sich ganz am Rand platziert, hat immer gute Aussichten, Aufmerksamkeit zu erregen. Ältere erinnern sich an Medienschaffende wie Martin Schulz, Karl Lauterbach und Sahra Wagenknecht, vor allem aber an Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Martin Sellner, die es sogar ohne Abgeordnetensitz schafften, für die öffentlich geführte Mediendebatte als relevant zu gelten.

Rebellin in Adidas-Uniform

Wie Timon Dzienus ist Jette Nietzard ist die Erbin dieser Pioniere des politischen Influencertums.
Die blasse Blonde, nach dem kollektiven Rückzug des früheren Vorstandes der grünen Nachwuchsorganisation  im Herbst vergangenen Jahres nach oben aufgerutscht, war schon im April beim "Stern" gewesen, um sich gut ausgeleuchtet als Stimme einer neuen, radikalen Generation inszenieren zu lassen. Die Rebellin trug dabei demonstrativ das Kostüm einer deutschen, aber globalen Weltmarke. Sie forderte die Abschaffung von Milliardären. Und eine "Welt, in der es keine Polizei mehr braucht".

Ein Aufschlag, der der 26-Jährigen, die eigenen Angaben "seit 2024 im Deutschen Kinderhilfswerk unter anderem zu den Themen Beteiligung und Geflüchtete" arbeitet, den Ruf einer Rebellin verschaffte. Und ihr wohl auch einen Hausausweis für den Bundestag beschwerte. Nietzard, diesen Anschein erweckt ihr Schaffen, ist seit der Bundestagswahl öfter im Reichstag gewesen als 99,9 Prozent der Bevölkerung im ganzen Leben. 

"Ich persönlich bin kein großer Fan der Kantine im Bundestag", hat die Jungpolitikerin mittlerweile bekannt. Für Millionen ein Trost: Wenn das Sprachrohr der der Infantilen, die getreu der alten Grönemeyer-Forderung "gebt den Kindern das Kommando" auftreten, keinen Geschmack am Kollektivessen der Volksvertreter findet, dann haben die Massen dort wohl nichts verpasst.

Mit dem Cap von AliExpress

Und nur einen Monat nach der Audienz für den "Stern" gewährt damals "auf einer halbrunden, gepolsterten Bank auf der Fraktionsebene des Bundestags", war die Sprecherin der AG Kinder, Jugend und Familie der Grünen Berlin jetzt schon wieder "auf dem Weg in den Bundestag", in welcher Funktion und zu welchem Zweck auch immer. Aus gegebenem Anlass hatte sich Nietzard fein gemacht. Demonstrativ zeigte sie sich ihren fast 22.000 Followern bei Instagram in einem Pullover mit All Cops Are Bastards-T-Shirt und kommunismuskonformem Baseball-Cap mit "Eat the rich"-Stickung, hergestellt in China, bei AliExpress für 5,59 Euro zu haben.

Der Plan ging auf, die anvisierte Aufregung schwappte umgehend hoch. Vertreter der bürgerlichen Parteien gaben sich empört, Polizeivertreter beleidigt. Selbst die Grünen sahen sich genötigt, ihren inzwischen staatstragenden Grundcharakter mit einer Verurteilung des Auftritts der Genossin als "nicht Position unserer Partei" zu bekritteln. Das bringt Fame, das spaltet und "ich spalte gerne die Gesellschaft" (Nietzard), wenn auch gezielt "nur nicht zwischen Geflüchteten und Deutschen sondern zwischen Milliardären und allen anderen" (im Original), hat Nietzard bekanntgegeben.

Das kann etwas werden, etwas ganz Großes. Wer so startet, der hat die besten Jahre noch vor sich.

Der Außenstürmer: Die Welt ist sein Feld

Der erste reine Außenkanzler: Friedrich Merz hat die Welt zu seinem Spielfeld gemacht.

Verhöhnt, als Lügner geschmäht, des Betruges überführt und lächerlich gemacht. Friedrich Merz hatte den bei weitem schlechtesten Start aller Bundeskanzler bisher, den Vorgänger einberechnet, dem niemand weiter traut als er Reichweite bei Tiktok hatte.  

Merz genoss vom ersten Tag an kein Vertrauen mehr und das brach er auch noch, ehe er seinen Amtseid gesprochen hatte. Merz presste künftigen Generationen ungefragt mehr Kredite ab, als die Maastricht-Kriterien zulassen. Er ignorierte Warnungen, dass eine hohe deutsche Verschuldung Russlands schärfte Waffe gegen Europa sei. 

Ohne jede Regierungserfahrung

Merz, seinen Kritikern zufolge ohne jede Regierungserfahrung ins Amt gelangt, wusste alles nicht nur gut, er wusste es besser. Im zweiten Anlauf konnte der Christdemokrat wenigstens knapp genug Bundestagsabgeordnete überzeugen, dass ein schlechterer Kanzler besser sei als gar keiner.

Merz machte anschließend sofort mobil. Mit 17 Ministern und 38 Staatssekretären hat der Mann, der einen Abbau der Verwaltungsposten um 20 Prozent zu einem seiner Ziele erklärt hatte, vom Start weg das größte "Bürokratie-Monster (Merz) aller Zeiten geschaffen. "Merz I", wie Historiker diese Regierung später nennen werden, ist das größte Leitungsgremium, das Deutschland je hatte. Doch allen Unkenrufen zum Trotz verdankt sich der Neuzuschnitt der Verwaltungseinheiten weder Merzens fehlender Verwaltungserfahrung noch seine, Anspruch, nicht nur körperlich der größte Kanzler aller Zeiten zu sein.

Merz steckt vielmehr im Dilemma: Mit 22,6 Prozent der Stimmen überzeugte seine CDU bei der Bundestagswahl ein Viertel mehr Wählerinnen und Wähler als der Koalitionspartner SPD, der nur auf 16,4 Prozent kam. Die CDU-Schwesterpartei CSU allerdings steuerte weitere 6,6  Prozent bei, weniger als die Hälfte der Stimmen, die auf die SPD entfielen.

Politische Mathematik 

Aber wichtig genug, um Ansprüche anzumelden. Arithmetisch korrekt verteilt, hätten den beiden kleineren Koalitionsparteien für zehn CDU-Ministersitze sieben beziehungsweise drei eigene zugestanden, 20 Ministerien aber erschienen sogar Friedrich Merz zu viele zu sein. Die CDU nahm sich folglich nur sieben plus Kanzler, sie SPD bekam trotzdem die mathematisch notwendigen sieben und die CSU durfte sich dennoch genau über die drei Spitzenämter freuen, die ihr Stimmenanteil in der Koalition ihr rechnerisch zugesprochen hätte. 

Die Anzahl der Ministerien musste wegen des koalitionären Gleichgewichts ausgebaut werden. Adenauer erstes Kabinett hatte 13 Minister, Kohls erstes 16, selbst die erste Merkel-Regierung schaffte es noch, das 81-Millionen-Volk der Deutschen kam noch mit so wenige Ministern zu verwalten wie die US-Regierung die 340 Millionen US-Amerikaner. Merz setzt nun ein Zeichen: Wenn Frankreich sich 36 Minister leisten kann und Italien 24, dann ist Deutschland mit 17 gut aufgestellt.

Eine Regierung im Dienst der Digitalisierung

Doch es hätte viel schlimmer kommen können. Die EU-Kommission etwa verfügt wegen des Vertretungsanspruchs aller 27 Mitgliedstaaten über 27 Kommissare, die allesamt unter einem eklatanten Mangel an Zuständigkeitsbereichen leiden. Mehrere hundert Beamte sind deshalb Flurgesprächen aus Brüssel zufolge dauerhaft damit beschäftigt, sich immer neue und fantastischere Ressortnamen für Operettenabteilungen wie "Ein Europa für das digitale Zeitalter", "Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen" oder "Ein stärkeres Europa in der Welt" auszudenken.

Ein gespreiztes Getue, auf das der nüchterne Macher Merz verzichtet hat. Bis auf das neue Ressort Digitales und Staatsmodernisierung heißt alles fast wie immer, nur "Raumfahrt" haben sie irgendwo noch eingefügt. Das Innenressort aber trägt das deutschtümelnde "Heimat" aus den Seehofer- und Ampeljahren nicht mehr im Namen, die Wirtschaft hat den Klimaschutz wieder an das Umweltressort abgegeben und die Landwirtschaft hat das "Heimat" aus dem früheren Faeser-Ressort geerbt. 

Alle Türschilder getauscht

Nur wenige Tage dauerte es, da waren alle Türschilder ausgetauscht, die Blattpflanzen an neue Standorte gebracht und Telefon- wie Faxverzeichnisse aktualisiert. Ein, zwei Jahre noch, und die neu zugeschnittenen Fachbereiche werden wieder reibungslos funktionieren. Im Gegensatz zur Wirtschaft, die immer noch "lahmt" (DPA). Aber weiterhin ohne große Kanzleransage auskommen muss.

Friedrich Merz ist ein großzügiger Kanzler, der einer klaren Agenda folgt. Seine Minister rekrutierte er aus einem Kreis von Altgedienten und vielfach Gescheiterten, aber auch aus neuen, oft von Sachkenntnis unbeleckten Politikern, die noch nie zuvor eine Verwaltung geleitet haben. 

Die Republik stellt das vor ein Rätselraten, wer genau was bewirken wolle. Bedeutet die an stehende Rückkehr zum industriellen Bauen, die die neue Bauministerin Verena Hubertz verkündet hat, auch die Rückkehr zu einem neuen Wohnungsbauprogramm mit einer Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis? Plant Katherina Reiche, die neue Wirtschaftsministerin, mit dem Neubau von Gaskraftwerken dieselbe Unterstützung für den Klimawandel zu organisieren wie ihr Vorgänger Robert Habeck? Und sind die Grenzkontrollen von Alexander Dobrindt wirklich noch deutlich EU-rechtswidriger als es die von Nancy Faeser waren?

Bundeskanzlers Beinfreiheit

Fragen, die dem neuen Bundeskanzler die Beinfreiheit verschafft haben, sich vorerst und vor allem der Welt zu widmen. Eine Menge los da draußen. Die Amerikaner rebellieren gegen ein Außenhandelsdefizit von 250 Milliarden Euro allein mit Deutschland. Der Russe verfeuert sein letztes Aufgebot im Donbass, um in Trümmern liegende Dörfer in Besitz zu nehmen. 

Ein Jahr nach dem Tag, an dem Putin die Artilleriegeschosse ausgingen, schicken seine Generale Soldaten in Rollstühlen und an Krücken an die Front, während sie gleichzeitig einen Angriff auf das Baltikum planen. Dazu die AfD im Parlament, die EU-Kommission im Nacken und weit und breit keine Idee, wie sich die lahmende Wirtschaft, die steigenden Sozialversicherungsbeiträge und die sinkende Zuversicht mit ein paar fingerfertigen Tricks aufpäppeln lassen könnten.

Im Anzug des Anführers

Dann lieber doch Fernreisen und Auftritte im Anzug des neuen Anführers der freien Welt. Den hatte der Westen gesucht, seit Donald Trump und sein Vize JD Vance klargemacht hatten, dass Europa weiterhin Amerika folgen könne oder aber allein gehen lernen müsse. Die Ausschreibung ging unmittelbar nach Vance' ultimativer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz raus. Mittlerweile ist Merz als einer der Anführer zumindest der kleinen elitären "Koalition der Willigen" anerkannt. Nach dem kleinen Scholz, der über die Weltbühne schlich wie sein eigener Kammerdiener, erscheint der großgewachsene Münsterländer wie ein Leuchtturm deutschen Selbstbewusstseins. 

Trump hat er ermahnt, Putin gewarnt, mit dem Chinesen Xi gekumpelt. In den europäischen Hauptstädten blieb die Ankündigung des früheren EU-Parlamentariers unwidersprochen, künftig werde es "mehr deutsche Führung" in Europa geben. An der Heimatfront gelang es Merz nahezu ohne jede Äußerung zu innenpolitischen Angelegenheiten, den Umfragetrend zu brechen, der seine Partei zwischenzeitlich schlechter hatte dastehen lassen als die nach einem Verfassungsschutzgutachten endlich endgültig gesichert rechtsextremistische AfD.

Innenpolitik second

Merz ist der erste reine Außenbundeskanzler, ein globaler leader, den die katastrophale Lage im Inneren erst in zweiter Linie interessiert. Friedrich Merz hat in den ersten 14 Tagen seiner Amtszeit acht Länder besucht, doppelt so viele wie sein Vorgänger Olaf Scholz und sogar drei mehr als die als außerordentlich reiselustige frühere Außenministerin Annalena Baerbock in den ersten zwei Wochen nach Amtsantritt absolviert hatte. Er hat den deutschen Willen zur Fortsetzung des Krieges an der Ostflanke unterstrichen, den Amerikanern die Ansage gemacht, dass er auch anders könnte und in Brüssel keine Zweifel daran gelassen, dass eine ganze Reihe von Richtlinien wegzufallen haben. 

Merz ist präsent, wenn auch über Bande. Merz führt sich ein, bewusst polternd, provozierend und mit Blick auf die Umfragen seiner Partei zumindest symbolisch betont konservativ. Wo ist er denn?, das fragt noch niemand. Was hat er vor? Darauf sind alle gespannt. Bis zum Sommer, so hatte Friedrich Merz im Wahlkampf versprochen, werde er vielleicht noch nicht den großen Aufschwung, aber doch einen Hauch von Zuversicht und Aufbruchsstimmung herbeigezaubert haben. 


Hoffen auf ein Wunder

Nur knappe vier Wochen bleiben noch, das Wunder zu wirken, das weder "Wumms" noch "Doppelwumms" noch das Scholz-Versprechen eines "Wirtschaftswunders wie nach dem Krieg" (Scholz), nur in Grün herbeiflehen konnten. Die bisher versprochenen "Turbo-Abschreibungen" haben nichts bewirkt. Ebenso stellten sich die Zusagen als Flop heraus, auf Kosten der Geldbeutel der hart arbeitenden Mitte einen günstigen Industriestrompreis für besonders klimaschädlich produzierende Großkonzerne herbeizusubventionieren und später einmal, irgendwann, eine Steuerreform anzuschieben. 

Das ist aber ohnehin alles nur kleines Karo. Als ehemaliger Blackrock-Manager weiß Friedrich Merz, dass Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft nicht von der deutschen Wirtschaft abhängen, sondern vom Weltmarkt, insbesondere von den Kunden in den USA und Asien. Von dort kommt all das Geld, das hierzulande seit Jahrzehnten verpulvert wird, um immer mehr Ämter zu stärken, die Demokratieförderung zu festigen und den Sozialstaat umfassend auszubauen. Unterbräche Donald Trump die Geldzufuhr wirklich dauerhaft, hätte das politische Berlin ein Problem: Selbst das Geld, das an allen Ecken fehlt, wäre nicht mehr da. 

Der Polier

Daher die Konzentration auf die Außenpolitik, der Versuch, das angekratzte Bild Deutschlands im Ausland zu polieren. Nach drei Jahren, in denen die erratisch umherreisende Annalena Baerbock und der hinter ihr herschlurfende Olaf Scholz mit ihrem hochmoralischen Anspruch an andere bestimmten, wie die Welt auf Deutschland blickte, wirkt der 69-Jährige fast schon langweilig normal. Merz laviert zwischen einer Fortsetzung der rot-grünen Ampelpolitik, wie sie sich die SPD wünscht. Und der Sehnsucht seiner eigenen Partei nach einem Bruch mit den zurückliegenden zehn Jahren. Wohin genau der Kahn kippt, ist nicht ausgemacht. 

Sonntag, 25. Mai 2025

Afrikas Aufbruch: Klimaflucht nach oben

Hoffnung Afrika Klimawandel
Afrika hat Hoffnung, der drohenden Überflutung durch den Klimawandel mit Hilfe des Klimawandels zu entgehen.

In Südamerika ist die Furcht schon umgeschlagen. Bilder, die die "Tagesschau" im vergangenen Jahre präsentierte, zeigten, wie zwei Inselbewohner die Insel Gardí Sugdub in einem Paddelboot verlassen - auf der Flucht vor dem ständig steigenden Meeresspiegel. Schuld an der großen Flucht, die zuvor schon die Einwohner der Südseeinsel Tuvalu angekündigt hatten, ist der Klimawandel. Jahr für Jahr steigen die Fluten.  Der Anstieg hat sich inzwischen von 1,4 Millimetern jährlich zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf 3,7 Millimeter im letzten Jahrzehnt beschleunigt. Der Klimawandel lässt das Eis der Polarregionen schmelzen. Dadurch steigt der Meeresspiegel. Und zwar immer schneller.  

Tuvalu besonders gefährdet

Menschen müssen ihre Heimat verlassen, auf Tuvalu lächelt das einheimische Personal nur noch für die Urlauber, die das Eiland besuchen, so lange es noch geht. Der tiefe im Ozean liegende Inselstaat im Südpazifik ist besonders vom steigenden Meeresspiegel gefährdet. Vor zwei Jahren schon bot Australien den bedrängten Insulanern schon Asyl für die Zeit an, wenn das Schlimmste eintritt.

Ein Vierteljahrhundert nach der Behauptung des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", die Untergangnachrichten seien eine "Südsee-Ente", ist es soweit. Zuletzt besagten Nachrichten, dass die Inseln der Atolle in den letzten vier Jahrzehnten um etwa drei Prozent gewachsen seien. Wenn es keinen völlig unvorhergesehenen Anstieg des Meeresspiegels gebe, werde Tuvalu auch noch in hundert Jahren bewohnbar, rechneten Wissenschaftler aus Auckland im Magazin "Nature" vor.

Die südafrikanische Strategie

Eine Strategie, die sich Südafrika zum Vorbild genommen hat. Jedes Jahr erhebt sich zumindest das südliche Ende des ehemals als "schwarz" bezeichneten Kontinent ein Stückchen weiter aus dem Meer - eine ungewöhnliche Art Flucht vor dem Klimawandel, die bisher auf Strömungen im Erdmantel zurückgeführt worden war. Geologen der Bonner Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitätgelang nun aber erstmals der Beweis, dass das Phänomen wohl eine andere Ursache hat: Es ist der Klimawandel selbst, der den Südafrikanern die Hilfsmittel liefert, sich vor den Folgen des Klimawandels in Sicherheit zu bringen. 

Die Natur hilft sich selbst, vor allem aber hilft sie den Menschen. Je nach Region, führt die "Tagesschau" aus, schiebe sich das südliche Ende Afrikas pro Jahr um einen oder sogar zwei Millimeter weiter aus dem Ozean heraus. Das habe wenig mit Vorgängen im Erdinneren zu tun, heißt es. Die Hauptursache liege vielmehr in den oberflächennahen Schichten der Erde. Dort führten die durch die Klimaerhitzung zunehmenden Dürren dazu, dass die Oberfläche der Erde austrockne. Feuchte Erde aber ist schwerer, sie hat Afrika bisher tief in den Erdmantel gedrückt. Ohne die Last des Wassers wird die Erdkruste leichter. Das führe dann dazu, dass sich die Südspitze Afrikas hebe.

Synchroner Aufstieg

Ein nahezu perfektes System, wie die Zahlen zeigen. Die Erderhebung erfolgt nahezu im gleichen Tempo wie der Anstieg des Meeresspiegels. Synchron steigen beide auf. Beim Meeresspiegel ist die Erscheinung längst bekannt. Ihre Ursachen liegen bei vom Menschen gemachte Gletscherschmelzen und der Wasserverdrängung der zunehmenden Anzahl von großen Kreuzfahrtschiffen. Die Kontinentaldrift nach oben dagegen, erstmals nachgewiesen am Beispiel des Kontinents Afrika, hat ihre Ursache in einer Entspannung der Erdkruste, auch sie menschengemacht. 

Die Erscheinung, die bisher nur aus polaren Regionen bekannt war. Nachdem etwa in der Antarktis der Masseverlust der Gletscher um etwa das Sechsfache zunahm, hob sich der Kontinent im Rekordtempo. Diese isostatische Bodenhebung des Felsfundamentes, auf dem 60 Prozent der gesamten Süßwasservorräte der Erde lasten, führte wiederum dazu, dass sich das Verschwinden des gesamten westantarktischen Eisschildes verlangsamte. Zwar ist der Schwund mit 252 Kubikkilometern im Jahr heute immer noch deutlich höher als früher, als nur 40 Kubikkilometer im Jahr in den Ozean strömten. Doch ohne diesen natürlichen Selbstschutzmechanismus wäre der Verlust zweifelsohne noch höher. 

Klimaflucht nach oben 

Das Anheben von Land infolge von Trockenheit anstelle von schwindender Eislast hatten sogenannte "Forschende" (Tagesschau)  der NASA zum ersten Mal vor 15 Jahren in Kalifornien bemerkt. Für Europa sind das erfreuliche Nachrichten. Vor allem Deutschland, das von Klimawandel und Dürre besonders betroffen ist, könnte die Klimaflucht nach oben, wie sie von Wissenschaftlern getauft worden ist, zu einem unerwarteten Rettungsanker werden.

Der relative Meeresspiegelanstieg ist am Pegel der ostfriesischen Insel Norderney zuletzt um 2,32 Millimeter im Jahr angestiegen, für die gesamte deutsche Nordseeküste gehen Experten von zwei Millimetern aus. Die aktuelle Dürreperiode im Land und der bevorstehende Dürresommer könnte die Lage entspannen und die strandnahen Lagen vor der drohenden Überflutung bewahren. Voraussetzung wäre allerdings, dass nicht doch wieder lange, intensive Regenfälle die Grundwasserreservoirs auffüllen.

EU-Plan: Neue Steuern gegen den Abschwung

Planwirtschaft EU Temo-Abgabe
Der Ausbau der EU-Planwirtschaft stößt immer wieder an die Grenzen der Logik.

Die deutsche Wirtschaft kommt nicht aus der Krise. Die Wirtschaftsweisen schrauben ihre Wachstumserwartungen wie immer herunter. Ein Experte warnt vor Massenentlassungen in der zweiten Jahreshälfte und die Europäische Kommission reagiert prompt: Auch sie hat ihre Erwartungen an die Wirtschaftsentwicklung auf dem größten Binnenmarkt der Welt nach unten angepasst.

Diesmal soll Donald Trump an allem schuld sein, nicht der Ukrainekrieg, nicht die steigenden Energiepreise und nicht der Fachkräftemangel. Trumps Zölle, die es noch gar ncht gibt, vermasseln Friedrich Merz den bis zum Sommer versprochenen Stimmungsumschung. Alles sei zu unsicher, niemand wisse noch, wo er investieren dürfe und welche Gewinnspannen in der Zukunft noch erlaubt seien. Reißt Ursula von der Leyen das Klimaruder herum? Setzt sie künftig auf Wachstum? Oder stolpert die mächtigste Frau der Welt gar schon in Kürze über ihre einzigartige Amtsführung per SMS?

Strafen und erziehen

Es geht um alles und die Kommission in Brüssel weiß das. Mit einer neuen Steuer auf chinesische Billigartikel will Handeslkommissar Maroš Šefčovič den gemeinsamen Markt abschotten, um einheimische Produzenten vor der Konkurrenz zu schützen. Für Kunden wird es teuer, den Staaten winken neue Einnahmen, das Klima profitiert. Vorbild sind die Strafzölle auf Elektroautos, mit denen von der Leyens erste Kommission eine Erhöhung der Preise bei Elektrofahrzeugen um 20 bis 38 Prozent durchgesetzt hat.

Die EU-Kommission, Wächter der europäischen Verträge, steht unter Druck. Auch sie hat die  Konjunkturprognosen für die frühere Industrielokomotive des Kontinents senken müssen. Auch sie versucht, die Lage mit dem Terminus einer "schwächelnden Konjunktur" in Deutschland aufmunternd zu umschreiben, kommt aber nicht umhin, von einem Land im dritten Jahr einer Rezession zu sprechen, dem Massenentlassungen bevorstehen, einbrechende Steuereinnahmenbrechen und eine Ausweitung der seit Monaten rollenden Pleitewelle. Ohne Deutschland aber kann die EU nicht wachsen und die von der Gemeinschaftswährung Euro profitierende innere Zone noch weniger.

"Mäßiges Wachstumstempo"

Was tun? Wieder ein Wiederaufbauprogramm? Mit wessen Geld? Oder alles auf Rüstung, ein Konzept, das vor Jahrzehnten erfolgreich erprobt wurde? Fakt ist, dass "erneut ein mäßiges Wachstumstempo" ins Haus stehe, sagt die Kommission voraus, was die Spatzen von den Dächern pfeifen. In der gesamten EU erwartet die Kommission ein Wachstum von 1,1 Prozent für das laufende Jahr, im - traditionell schwächer wachsenden  - Euroraum geht sie von einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,9 Prozent aus. 

Der große Wachstumsschub Deutschlands, den der neue Kanzler Frridrich Merz bereits bis "zum Sommer" hatte manifestiert sehen wollen, wird nach den Berechnungen aus Brüssel allenfalls zu einem unveränderten deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) führen. Früher wäre das "Stagnation" gefallen.

Verpuffte Milliarden

Es ist alles verpufft, was die höchste Planungsinstanz der Staatengemeinschaft in den zurückliegenden fünf Jahren angeschoben, versucht und unternommen hat. Der Wiederaufbauplan für Europa, nach der Corona-Pandemie als willkommener Anlass genutzt, um mit neuen Schulden gegen eine Wirtschaft anzugehen, die aufgrund von immer höheren Bürokratie- und Verwaltungslasten überhaupt nicht mehr auf die Strümpfe kam, hat sich als Luftnummer herausgestellt. Sagenhafte 800 Milliarden Euro Volumen rechnete die um keinen Trick verlegene Kommission für "NextGenerationEU" zusammen. 

Das Geld, pro Kopf jedes EU-Europäers immerhin fast 2000 Euro, sollte das "größte Konjunkturpaket aller Zeiten" (EU) sein und "mehr als nur ein Aufbauplan! Mit spitzen Stift wurden daraus sogar rund zwei Billionen Euro, eigentlich genug, um Europa nach dem Wirtschaftseinbruch in der Pandemie nicht nur "wieder auf die Beine kommen" (EU-Kommission) zu lassen, sondern aus dem drögen Schrumpfkontinent etwas schickes Neues zu machen. 

Nie weniger als mehrere Ziele zugleich

Weil die EU nie weniger als mehrere Ziele zugleich verfolgt, war das Geld auch dafür gedacht, "ein grüneres, stärker digital ausgerichtetes und krisenfesteres Europa" aufzubauen. "NextGenerationEU war die "einmalige Gelegenheit, gestärkt aus der Pandemie hervorzugehen, unsere Volkswirtschaften umzugestalten sowie neue Chancen und Arbeitsplätze für unser Europa von morgen zu schaffen", verdeutlichte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die geschichtliche Dimension eines Vorhabens, dessen Auswirkungen heute nicht zu übersehen sind. Der größte Teil der 800 Milliarden Euro aus neuen Schulden ist investiert oder zumindest verplant. Europa hat es mit Hilfe dieser astronomischen hohen Summen geschafft, ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich einem Prozent zu produzieren. 

Mit dem Schinken nach der Pelle

Der Schinken hat die Wurst getroffen, doch wo es gebratene Gänse regnen sollte, sind nur leere Pellen vom Himmel gefallen. Für die EU ist das weniger ein Problem als eine neue Chance, die nächste Stufe der Überregulierung anzuvisieren. Diesmal will die EU-Kommission die Hürden für Einfuhren aus Drittstaaten hochziehen – erst vor zwei Jahren hatte sie begonnen, die bis dahin geltenden Zollfreigrenzen nach und nach zu drücken, so dass immer mehr Kleinimporte mit Abgaben belegt werden konnten. Jetzt soll mit Hilfe einer neuen, als "Abgabe" bezeichneten Steuer verhindert werden, dass Billiganbieter wie die chinesischen Großkonzerne Temu und Shein die Europäer weiterhin mit Billigware versorgen.

Pro Paket will die EU bis zu zwei Euro Zuschlag erheben - im Grunde entspricht das einer Einführung der schon länger geplanten CO2-Grenzausgleichsabgabe (Carbon Border Adjustment Mechanism, kurz CBAM), die Unternehmen zahlen sollen, die kohlenstoffintensive Produktion in Ländern mit "weniger ehrgeizigen Klimastandards" (EU) verlagern, um wettbewerbsfähig zu bleiben oder ohnehin dort produzieren. Importe kohlenstoffintensiver Produkte sollen so verteuert werden. 

Höhepunkte der Regulierungsfreude

Das Vorhaben aus dem mittlerweile in aller Stille verschollenen "Fit für 55"-Paket der EU zielte eigentlich auf Eisen, Stahl, Aluminium, Wasserstoff, Strom, Düngemittel, Zement oder daraus produzierte Vorprodukte und sollte Wettbewerbsnachteile heimischer Unternehmen, die vergleichbare Waren herstellen, ausgleichen. 2023 auf dem Höhepunkt der Regulierungsfreude der Kommission beschlossen, sollte die 53-seitige Verordnung (EU) 2023/956 vom Tag ihrer Veröffentlichung an "für in das Zollgebiet der Union aus Drittländern eingeführte Waren gelten". Lange Listen waren dazu erstellt worden, wer was anmelden muss, was als welche Ware gilt, wie das zu berechnen ist und wer das kontrolliert. 

Die Idee nach dem Muster "ich muss dich bestrafen, um dich vor dir selbst zu beschützen" entpuppte sich erwartungsgemäß als bürokratisches Monster, dass die, die entlastet werden sollten, mit neuen Anmeldungs-, Statisktik und Überprüfungsroutinen überzog. Unmittelbar nach dem Inkrafttreten verhängte die EU ein Moratorium und verschob dern Start. Polen klagte vor dem EuGH gegen die Einführung. China und andere Staaten wandten sich an die internationale Handelsgerichtsbarkeit.  Ärger liegt in der Luft.

Bürokratie gegen Bürokratie

Zugleich fiel den Müttern und Väter der Idee auf, dass die neue Klimaabgabe auf kohlenstoffintensive Importwaren nur mit einem enormen Aufwand eingezogen werden kann: Bei Grundstoffen wie Stahl oder Zement ist die Ermittlung der Emissionen pro Größeneinheit einfach, aber nur theoretisch. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der einzelfallbezogenen Messung der CO2-Intensität der Produktion im Ausland müssen Durchschnittswerte je Produktmenge als Bemessungsgrundlage herangezogen werden - die aber verhindern wirksam jeden Anreiz zur Effizienzsteigerung. Sie bringen es zwangsläufig mit sich, dass neben der Belastung der Importe auch Exporte besteuert werden müssen, um den Verlust von Weltmarktanteilen zu vermeiden. 

Bizarr: Die Einnahmen aus diesem Teil der Zuschläge würden dann als Rabatte an die Firmen zurückgegeben. Eine echte Europalösung, die steigende Kosten für produzierende Unternehmen mit völkerrechtlichen Bedenken kombiniert, den Freihandel behindert und nach ihrer endgültigen Umsetzung im Jahr 2026 dazu führen wird, dass andere Wirtschaftsräume sich mit ähnlichen Regeln revanchieren werden. 

Unlösbare Probleme

Völkerrechtlich ist die Sache klar: Ein Importprodukt darf allen internationalen vereinbarungen nach nicht mit höheren Kosten belastet werden darf als ein gleichartiges in der EU produziertes Produkt. Zudem dürften gleichartige Produkte aus WTO-Staaten vor diesem Hintergrund nicht unterschiedlich behandelt werden, sei es mit oder ohne CO2-Bepreisung durch die EU. Dank der europäischen Logik unlösbare Probleme, die die EU deshalb auf ihre bekannte souveräne Weise vor sich herschiebt. 

Noch ehe die neue Abgabe überall erhoben werden soll, teilte die Herrschaft in Brüssel mit, sie werde nun dem Großteil der Unternehmen in Europa die geplanten CO2-Grenzabgaben erlassen und die Masse der Importeure von CO2-Grenzabgabe befreien. Erfasst würden nach den neuen Plänen nur Firmen, die mehr als 50 Tonnen pro Jahr importieren - ein Beitrag der Kommission zum sogeannnten "Bürokratie-Abbau", der Ursula von der Leyen derzeit gemeinsam mit der Aufrüstung anstelle der Klimarettung als wichtigstes Thema gilt. 

Aufgeschobene Abschottung

Aus Angst, dass die CO2-Grenzzölle europäische Firmen mehr noch als bisher ins Ausland treiben, schreckt die EU vor dem geplanten historischen Schritt zur Abschottung des Marktes für Aluminium, Zement, Strom, Düngemittel, Eisen, Stahl oder Wasserstoff zurück. Eine Rolle spielte hierbei wohl auch die Ankündigung des US-Präsidenten, dass er auch Fantasieabgaben wie die auf Kohlendioxid als Zölle begreife und mit Gegenzöllen beantworten werde. 

Die Angst der Kommissare ist groß, eines Tages doch dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass EU-Europa bereits seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr mit dem Wachstum der Weltwirtschaft Schritt halten kann. Derzeit kommt sie immer noch davon, denn Medien vermeiden es tunlichst, Zusammenhänge herzustellen, wo sie ins Auge springen. Und die strategisch erfahrene EU-Chefin weiß, dass sie nur vor der Lage bleiben muss, um Kritik zu verhindern: Wer regelmäßig neue Vorhaben ankündigt, neue Maßnahmen verhängt und neue, immer gigantischer Programme ankündigt, vermeidet zuverlässig, dass seine früher angekündigten Großreformen, Heldentaten und Wirtschaftsprognosen an der Wirklichkeit gemessen werden. 

Mit der Temu-Abgabe löst sie die Aufgabe souverän, eimmer dann einfach irgendwo anders anzufangen, wenn man dort, wo man ist, nicht weiterkommt.

Samstag, 24. Mai 2025

Zitate zur Zeit: Aus Erfahrung klug

Man muss mit den Wessis etwas nachsichtig sein, es ist ihre erste DDR. 

Michael Schultheiss

Messerkultur: Spurt die Führ wieder nach Moskau?

Auffällige Suchanfrage aus Russland: Schon vor dem Messerangriff einer mutmaßlich 39-Jährigen auf Fahrgäste der Bahn wurde in Russland häufiger nach "Hamburg", "Messer" und "Bahnhof" gesucht.


Regional, aber wegen des Schauplatzes doch ein bisschen wichtig. Der Messerangriff von Hamburg schaffte es nach einigen Anlaufschwierigkeiten in die "Tagesschau". Kurz vor Toresschluss, knapp vor kulturellen Todesmeldungen und Wetter, informierte die ARD über das fürchterliche Geschehen zwischen Gleis 13 und 14. Zwölf zum Teil schwer Verletzte. Eine festgenommene mutmaßliche Person. Hintergründe noch unklar. Sicher aber: Kein Mann, sondern eine Frau, 39, blond, auffallende Kennzeichen Adidas.

Nicht der einzige Einzelfall

Ein Einzelfall, aber längst nicht der einzige. Gerade in den vergangene Wochen verging kaum ein Tag, ohne dass nichtsahnende Menschen an öffentlichen Plätzen Opfer plötzlich aufbrechender Gewalttaten wurden. Eine Messerattacke in Remscheid, bei der ein 11-Jähriger einen 13-Jährigen verletzt. Ein "erschütternd brutaler" Angriff in Bielefeld. Eine Messerattacke in Berlin-Spandau, einer in Böblingen, einer in Renningen.

War die Politik nach der Ausweitung der Messerverbotszonen im vergangenen Herbst noch froher Hoffnung, dass sich das Thema nach zahlreichen Gesten simulierter Entschlossenheit totgelaufen habe, sprechen die aktuellen Ereignisse eine andere Sprache. Selbst der Bundestag sah sich von der gesichert rechtsextremistischen AfD gezwungen, über innere Sicherheit und Messer­angriffe in Deutschland zu debattieren -  ein knappes Jahr nach Mannheim und dem von zahlreichen  Faktencheckern geführten Beweis, dass es weder einen Anstieg entsprechender Taten noch doch zumindest keinen gebe, der Deutschland unsicherer mache

Wappnen für Ängstliche

Dank neuer Volkshochschulkurse konnten sich besonders Ängstliche dennoch wappnen, stigmatisierende und kontroverse Begriffe wie "Messermigranten"wurden erklärend erläutert und letztlich dienten sie einem guten Zweck: Auch die Verwendung dieses entlarvenden Begriffs sorgte mit dafür, dass die AfD vom Verfassungsschutz das Prädikat "gesichert rechtsextremistisch" verliehen bekam.

Die Messerangriffe der vergangenen Wochen haben beim manchen dennoch ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen. Allem Empfinden nach häufen sich die Attacken. Das Muster ist häufig ähnlich: Scheinbar wahllos wird auf Unbeteiligte eingestochen, zumeist in gutbürgerlichen Städten im Westen Deutschlands, die als gesichert demokratisch gelten. 

Aus einer Analyse des Medienwissenschaftlers Hans Achtelbuscher von mehr als 600 Medienbeiträgen geht hervor, dass Berichte über Gewaltkriminalität stark zugenommen haben. Der erfahrene Regressionsforscher führt das auf den Umstand zurück, dass über tödliche Delikte und besonders schwere Straftaten häufiger berichtet werde. Sie machten etwa die Hälfte aller Berichte über Messerangriffe aus. Weniger schwere Fälle fielen "oft hinten runter", sagt der 56-Jährige, der am An-Institut für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder forscht und lehrt.

Leicht oder gar nicht verletzt

Achtelbuscher ist sicher: "Die vorhandenen polizeilichen Statistiken zeigen: In den meisten Fällen werden Opfer von Messerangriffen leicht oder gar nicht verletzt, das aber wird oft nicht berichtet." Das hat dem Experten für Mediendemenz und Empörungskurven zufolge Auswirkungen auf das allgemeine Sicherheitsgefühl. "Der Anteil tödlicher Delikte an der Gewaltberichterstattung ist deutlich höher als in der polizeilichen Gewaltstatistik", rechnet der Forscher.

Messerangriffe seien damit ideal geeignet, um mit wenig Aufwand viel Unsicherheit in die Gesellschaft zu tragen. "Wenn selbst seriöse Sendungen wie die Tagesschau ein Einzelereignis wie das in Hamburg keine drei Stunden nach der Tat ungeprüft aufgreifen, ist das natürlich Wasser auf die Mühlen derjenigen, die darauf setzen, dass sich die Politik von üblen Schlagzeilen zu unbedachtem Aktivismus treiben lässt."

Statistisch kaum zu belegen

Krude Thesen über Berlin als "Messer-Hauptstadt" sind statistisch kaum zu belegen, aber wirkmächtig. Dabei liegt die Wahrscheinlichkeit, in Berlin einem Messerangriff zum Opfer zu fallen, noch deutlich unter der, als Kind oder Jugendlicher in Deutschland mit sexualisierter Gewalt konfrontiert zu werden. 29.000 Angriffe deutschlandweit in einem Jahr, das sind nicht einmal 80 am Tag. 

Als Bruttogehalt reichte das in Steuerklasse 1 nicht einmal an das Einkommen eines Vollbeschäftigten mit Mindestlohn heran. Aufgeteilt auf die 11.000 Städte und Gemeinden im Land dauere es statistisch betrachtet fast 140 Jahre, bis ein bestimmter Ort mit einer sogenannten "Messerattacke" konfrontiert werde. Doch, so Achtelbuschers Vermutung, im hybriden Krieg, in dem Deutschland derzeit an so vielen Fronten kämpft, liegt gerade in der großen Wirkung der kleinen Ursache, die jedes Messerattentat bildet, der Reiz für die, die von wachsender Unsicherheit profitieren.

Spure nach Russland

"Eine Zunahme der Straftaten mit Messern lässt sich anhand vorhandener Daten gar nicht abschließend feststellen", sagt Hans Achtelbuscher. Sicher aber sei, dass Spuren zu den Hitlermännern oft nach Russland und zu Putins Geheimdiensten führten. 

Achtelbuscher und sein Team haben diese These inzwischen auch experimentell geprüft - und sie sind fündig geworden. "Wir haben mögliche Hinweise für russisches Täterwissen im Netz gefunden", sagt der immer noch sichtlich geschockte Wissenschaftler. Wohl nicht zufällig kurz nach wichtigen Wahlen, wie sie Deutschland gerade mehrfach erlebt haben, erschütterten die Messerübergriffe die Bundesrepublik. 

Diese Häufung, die sich anhand vorhandener Daten noch nicht abschließend feststellen lasse, sei ebenso wie die Ähnlichkeit der Zwischenfälle kaum ein Zufall. "Die Verdichtung nach den Wahlen ist evident" betont Achtelbuscher und er liefert einen mehrfach falsifizierten Ermittlungsansatz: Verdächtige Suchanfragen aus Russland im Vorfeld der Anschläge zeigten ein auffallendes Interesse der Russen an Begriffen wie "Messer", "Hamburg" und Bahnhof". Auch das Wort "Attentat" sei schon Wochen vor der jüngsten Bluttat von Russland aus sprungartig häufiger gesucht worden.

Digitale Verhaltensanalyse

Hat Russland also etwas mit den Anschlägen Monate zu tun? Es wäre naiv, solchen Hinweisen nicht nachzugehen, sagt Hans Achtelbuscher, der gemeinsam mit seinem Referat für "Digital Behavioral Analystics" (deutsch: Digitaler Verhaltensanalyse) umfangreiche  Google-Suchläufe simuliert und dann mit datenforensischen Methoden ausgewertet hat. 

Die Anfragen aus Russland Tage und Wochen vor dem Anschlag ließen auf Täterwissen schließen, ist sich Achtelbuscher sicher. Der Kreml nutze offenbar die ohnehin schon vorhandene Verunsicherung angesichts der von Friedrich Merz geschlossenen Grenzen, die dennoch offen blieben, und der Abschiebekampagne der unionsgeführten SPD-Regierung, die sogar von der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel abgelehnt werden.

Brechend voller Bahnsteig

Dennoch: Medien machen bei der Angstmache willig mit. Die "Tagesschau" berichtet, die eigentlich staatspolitisch recht verantwortliche "Zeit" beschwört eine "wahllos, unvermittelt, aus dem Nichts" ausbrechene Gewalt an einem Tatort, der "brechend voller Bahnsteig" gewesen sei, der von einer "offenbar psychisch kranken" Frau angegriffen wurde. Beschwörend heißt es "Wie sicher ist der Hamburger Hauptbahnhof? Wie sicher kann er sein?" Und der "Tagesspiegel" aus demselben Verlagshaus verstärkt die Verunsicherung noch, indem er schon vor dem Abschluss der Ermittlungen von "keinen Hinweise auf ein politisches Motiv" weiß - die mutmaßliche Täterin habe "wahllos" herumgestochen. 

Es kann jeden treffen. Das ist die Botschaft von Zeilen wie "Dann haben wir das Blut gesehen" (Spiegel), "17 Verletzte bei Messerangriff" (FAZ) und "Frau verletzt viele Menschen" (n-tv). Niemand hat die Absicht, das Brandenburger Tor zu beleuchten. Kein Kanzler wird mit betretener Miene auf dem Bahnsteig herumstolzieren und den Bahnmitarbeitern seine unverbrüchliche Solidarität bekunden. Niemand ist Gleis 13, niemand Gleis 14. 

Kaum ein Zufall

Bereits seit dem 1. Oktober 2023 hat die Hansestadt Hamburg ein Waffenverbot rund um den Hamburger Hauptbahnhof verhängt. Mitte Dezember 2024 erweiterte der Senat die Verbotszone, indem er ein Messerverbot im öffentlichen Nahverkehr erließ. Ein Angriff wie der vom Freitagabend ziele auf das Herz der deutschen Verbotskultur. "Da wird versucht, das gesamte deutsche Verbotskultur zu verhöhnen", sind die Wissesnchaftler überzeugt. Politik solle unglaubwürdig gemacht werden, Politiker an Vertrauen verlieren. 

Die Häufing in einer Findungsphase der Innenpolitik ist tatsächlich auffallend. In den vergangenen Monaten gab es in Deutschland bereits mehrere Messerattacken mit Schwerverletzten und Toten. Neben dem lebensgefährlichen Angriff auf mehrere Menschen vor einer Bielefelder Bar, nach dem ein tatverdächtiger Syrer festgenommen, verletzte ein aus Ghana stammender Mann auf dem Bahnhofsplatz einen 35 Jahre alten Mann mit einem Messer schwer. Syrien galt lange als enger Verbündeter des Kreml. Auch die Beziehungen zwischen Ghana und Russland sind bilateral freundschaftlich und eng, mit nach wie vor diplomatischen Vertretungen in jeweils anderen Ländern.

Alles kein Zufall 

 "Es ist recht unwahrscheinlich, dass wir hier von einem Zufall sprechen", glaubt Achtelbuscher, der Zusammentreffen der spannenden Phase des Zusammenwachsens der politischen Mitte nach der neuen AfD-Einstufung und den wiederaufflammenden Zollauseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten eine alte russische Strategie zu erkennen glaubt: "Offenbar werden die Opfer willkürlich ausgewählt, das Ziel aber ist unsere Demokratie".

Bereits vor Bundestags- und Europawahl gab es mehrere Anschläge in Deutschland, für die es keine Beweise für eine russische Urheber- oder Mittäterschaft gegeben hatte. Doch gerade darin erkenne man die Handschirft des Kreml os Achtelbuscher: "ich glaube, es ist völlig offensichtlich, dass diese digitalen Spuren und die Auswertung und Analyse dieser digitalen Spuren ein wichtiger Baustein dafür sein können, der Wahrheit deutlich näher zu kommen". 

Freitag, 23. Mai 2025

Mit Zahlen prahlen: Gegen jede Chance

Schwerpunkt sexualisierte Gewalt: Richtig dargestellt, werden 17.000 Fälle zu einer Welle, die sich kaum mehr beherrschen lässt.

Alles wird bekanntlich immer schlimmer, immer öfter und immer mehr. Die Moderne nährt sich von der Idee, Bedrohliches zu entdecken. Und wer mit der Wahrheit lügen will, mit reinen, puren, ungeschminkten Fakten Meinung machen und dabei nicht erwischt werden, dem rät das Lehrbuch des klassischen Demagogiefaches "Lügen mit der Wahrheit" Zahlen ohne jeden Bezug zu präsentieren. Mehr Rechte, mehr Straftaten, mehr Verstöße und mehr Gewalt, sie sind das Fundament, auf dem Vater Staat sein wichtigstes Versprechen baut: Mit mehr Verboten, mehr Gesetzen und sogenannten schärferen Regeln wird alles wieder, wie es war.

Mehr Verstöße

Dass es zu "mehr Verstöße gegen den Jugendschutz" kommt, zu mehr "sexualisierter Gewalt", die mehr Kinder im Netz mehr gefährdet, folgt der unbestechlichen Logik, von der auch die seit dem Zweiten Weltkrieg beständig steigende Zahl Rechter und rechter Straftaten lebt. Auch ohne die Antwort auf 551 Fragen zu kennen, ist der alljährliche Jahresbericht von jugendschutz.net eine Fundgrube an Wissen über mediale Mechanismen: Schon in der Steinzeit des Kampfes gegen Hetze, Hass und Zweifel war die gemeinnützige GmbH mit Sitz in Mainz eine zuverlässige Quelle für beunruhigende Nachrichten. 

Hier konstatierten die Mitarbeiter der von den Obersten Landesjugendbehörden, den Landesmedienanstalten und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam finanzierten "Zentralstelle" zuerst, dass das Internet "immer brauner" werde. Hier galt frisch entdeckte 1.872 deutschsprachige Nazi-Websites auch angesichts der Gesamtzahl von fast 14 Millionen deutschsprachigen Internetangeboten nicht als recht schwer zu finden. Sondern als akute Bedrohung.

Keine rechten Websites mehr

Doch die Zeit wandelt sich. Längst zählen die Jugendschützer nicht mehr rechte Websites, sondern rechtsextreme Inhalte auf Facebook, Twitter und YouTube. Das Feld wirft einfach mehr ab. "Rund 5.500 rechtsextreme Beiträge und Angebote" fanden die Experten bereits in sozialen Netzwerken. Seither sind es noch mehr. Aber vorsichtshalber wird niemals mitgeteilt, wie viele "Beiträge und Angebote" es überhaupt gibt.

Ein Strickmuster, das sich bewährt hat und deshalb auch bei der Alarmmeldung über Kinder und Jugendliche angewendet wird, die "Internet zunehmend mit Hassinhalten und sexualisierter Gewalt in Kontakt" kommen. 17.630 Verstöße gegen den Schutz von Kindern und Jugendlichen registrierte jugendschutz.net im vergangenen Jahr im Netz. In 90 Prozent der Fälle habe es sich um "Darstellungen sexualisierter Gewalt" gehandelt, beschrieb Stefan Glaser, Leiter und Geschäftsführer der GmbH, die schon seit 1997 und in jüngster Zeit immer mehr "quasi hoheitliche Aufgaben des Staates" (AK Zensur) übernimmt.

Immer noch 17.000 Fälle

17.630 Fälle, das sind so viele wie das BKA vor drei Jahren zählte. Also viel zu viel. Die Zahl der Fälle habe sich auch gerade verdreifacht,  klagt Glaser zum Beispiel bei der "Tagesschau". Obwohl die "LPR-Trägergesellschaft jugendschutz.net" schon seit 2003 organisatorisch irgendwie an die Kommission für Jugendmedienschutz "angebunden" (jugendschuzt.net) ist, einer Versammlung der Direktorinnen und Direktoren von Landesmedienanstalten, und inzwischen "auch als gemeinsames Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet" dient, wird es offenbar nicht besser. Nur mehr. 

Aber wie viel eigentlich? So wenig die "Bund-Länder-Organisation" (Tagesschau) in ihrem Jahresbericht qualitative Auskünfte über den Charakter der medial präsentierten Verstöße gibt, so wenig findet eine quantitative Einordnung statt.  "90 Prozent mehr" errechnet der "Spiegel". Aber mehr wovon? "Angebote mit Bezug zu Sex/Pornografie machten nur 2 Prozent aus" heißt es im Bericht. Doch "sexualisierte Gewalt dominierte Arbeit" heißt es auch. Weitere Erklärungen fehlen - ein Kunstgriff, mit dem es gelingt, aus dem, was da ist, mehr zu machen, als man hat.

48 Fälle pro Tag

Denn was genau bedeuten 17.000 Fälle sexualisierter Gewalt inklusive Pornobezug? 48 Vorkommnisse pro Tag, bundesweit. Da in Deutschland etwa neun Millionen Menschen im Alter von 7 bis 16 Jahren leben, hat jedes Kind eine Chance von 1:555, dass ihm auch einmal begegnet, was jugendschutz.net wolkig als "so genannte Kinderpornografie" und "Jugendpornografie" beschreibt. Gemeint sind unter anderen möglichem "Missbrauchsvorgänge" durch die Verwandlung von Alltagsfotos in Nacktbilder, mit denen Kinder dann gemobbt und erpresst werden. Von wem? Von anderen Kindern? Man weiß es nicht, aber: Dabei werde sogar Künstliche Intelligenz genutzt.

So sehr, dass "wer online ist, unweigerlich auf rassistische, antisemitische und frauenverachtende Inhalte" stoße. Angesichts der Wahrscheinlichkeit von 1:555 muss er vielleicht eine Weile suchen, immerhin waren im vergangene Jahr gerade mal 0,18 Prozent aller Kinder und Jugendlichen vom einem "Verstoßfall" betroffen. Genug, um eine radikale alte Forderung zu wiederholen: Die großen Plattformen Altersüberprüfungen endlich so umsetzen, dass kein Minderjähriger mehr dorthin gerät, wo es von sexualisierter Gewalt zu wimmeln scheint, wenn die Darstellungsform der Zahlen entsprechend angepasst wird. 

Joe Biden: Die mächtigste Handpuppe der Welt

Biden und scholz
Einem Mann trauen Beobachter zumindest zu, von Bidens Zustand wirklich nichts bemerkt zu haben. Abb: Kümram

Als die Vereinigten Staaten vor einem Jahr auf die Zielgerade zur nächsten Präsidentschaftswahl biegen, besteht am Ernst der Lage kein Zweifel. Amerika steht vor dem Abgrund, so oder so. Die Demokraten haben sich vom amtierenden Präsidenten überzeugen lassen, dass nur er eine zweite Präsidentschaft des Republikaners Donald Trump verhindern kann. 

Der Mann aber, der im Weißen Haus residiert, zeigt sich öffentlich in einem Zustand, der seine zweite Präsidentschaft vielen weitaus bedrohlicher erscheinen lässt als die Trumps. Jake Tapper und Alex Thompson zeichnen jetzt in ihrem Buch "Hybris" ein schonungsloses Bild der letzten Jahre Joe Bidens an der Macht – und der fatalen Dynamik, die zur Niederlage der Demokraten führte.  

Das am besten gehütete Geheimnis

Warum aber jetzt? Was ist passiert, dass auf dem Tisch landet, was vor acht Monaten noch als das am besten gehütete Geheimnis der westlichen Welt galt? Woher kommt der plötzliche Mut, öffentlich von Dingen zu reden, die so unerhört sind, dass sie auszusprechen gerade noch als Versuch galt, die Demokratie zu schwächen, Russland zum Sieg zu verhelfen und den Westen zu spalten?

Deutsche Großblätter, wie immer unter den emsigsten Verteilern der Wahrheit, überschlagen sich mit einem Mal in Besorgnis. Wie schwach war Biden wirklich? Welches Netzwerk hat da die ganze Welt getäuscht? Oder sogar brutalstmöglich: Warum haben wir den Spuk mitgemacht?

Der Trend drehte wohl am Morgen nach der Wahl, als der alte Mann kurz vor seinem Abschied verkündet, er hätte diese Wahl mit Sicherheit gewonnen. Ein böses Nachtreten gegen die Elite der Demokratischen Partei, gegen Nancy Pelosi und Barack Obama vor allem. Biden behauptet, diese Großkopferten hätten ihn aus dem Rennen gedrängt. Nur deshalb habe Trump gewinnen können. 

Eine Verschwörungstheorie

Eine Verschwörungstheorie, die kaum weniger originell erscheint als die, dass der Führung der Demokraten erst am Abend des ersten TV-Duells von Biden mit Trump klargeworden sei, dass der Präsident nicht mehr in der Lage, einen Wahlkampf zu führen. Ohne große Umstände, der normale Ablauf der innerparteilichen Kandidatur gilt schlagartig als unwichtig, wird Vizepräsidentin Kamala Harris eingewechselt. Sie hat 107 Tage, um Amerika zu überzeugen – für eine Frau, deren Qualifikation darin besteht, dass sie nicht Joe Biden ist, eine unmögliche Mission. 

Wie aber konnte es so weit kommen? Ist Joe Biden wirklich der Vater des Desasters, der Großbetrüger, der seine Partei, die Medien und das gesamte amerikanische Volk hinters Licht geführt hat? David Plouffe, Architekt von Barack Obamas Wahlsieg 2008 und späterer Berater, behauptet es im Buch: "Wir als Partei sind von Biden dermaßen betrogen worden." Bidens Entscheidung, erst zur Wiederwahl anzutreten und nach der katastrophal verlaufenen TV-Debatte noch drei Wochen zu zögern, bis er dem Druck der Partei nachgab und seinen Rücktritt erklärte, habe alles "total in die Scheiße geritten".

Ein Mann allein

Was für eine schöne Geschichte. Ein Mann allein reitet alle rein. Einem Blender und Machtmissbraucher gelingt es mit allen Mitteln, die ihm als Präsident zur Verfügung stehen, über die Köpfe von Beratern, Parteigrößen und Medienhäusern hinweg seine erneute Kandidatur durchzusetzen. Und nicht nur das: Bis zu dem Tag, an dem der kollektive Druck von allen Seiten ihn schließlich zum Rückzug nötigt, schafft er es sogar, als Hoffnungsträger gefeiert zu werden.

Ein Kunststück, das selbst die phänomenalen Doppel- und Dreifachtäuschungen des Jan Marsalek in den Schatten stellt. Denn bei Biden geschah alles auf offener Bühne: Der Verfall war zu sehen, die Momente, in denen er den Faden verlor, nicht mehr wusste, wo er war und was er da zu tun hatte. Legendär die Episode, in der Helfer ihm soufflieren, er solle nach dem Betreten des Gebäudes den Marinesoldaten salutieren. Biden nimmt es wörtlich. Er wiederholt seine Regieanweisung "jetzt den Marinesoldaten salutieren" laut, statt die Hand zu heben.

Benommen auf der Weltbühne

Die ganze Welt schaut ihm zu, wie er benommen über die Weltbühne irrt. In seinen guten Augenblicken funktioniert Biden wie ein behäbiger, rostiger Präsidentenroboter. In den schlechten ist in ihm niemand zu Hause. Hinter den Kulissen, enthüllen die beiden Autoren jetzt, sei es noch schlimmer gewesen. Biden konnte nur noch wenige Stunden so tun, als regiere er. Seine Aussetzer häuften sich. Er sprach verwaschen und mit immer weniger Menschen, die immer strikter darauf geachtet hätten, ihn  abzuschirmen. 

Sein engster Kreis habe alles getan, um die Wahrheit zu verschleiern, heißt es im Buch. Ein Versuch, die Verschleierung verschleiern. Denn den kognitiven Verfall, den Millionen sehen, als Biden sich am 27. Juni durch das TV-Duell mit Trump stottert, müssen alle bemerkt haben, die vorher auch nur auf 100 Meter Entfernung mit dem Präsidenten zu tun hatten.

Selbst Tapper und Thompson kommen nicht umhin, in der Vorgeschichte zu erwähnen, dass Biden schon 2020 an Ausfallerscheinungen litt. Und die Wahl, so zitieren sie Leute aus der Demokratischen Partei, nur gewonnen habe, weil ihm Corona einen Wahlkampf in Hallen und auf Plätzen ersparte. Er konnte ihn aus dem Homeoffice führen. Und sich viel ausruhen.

Alle wollten glauben

Aber niemand wollte es wissen, alle wollten glauben, dass Biden die einzige Karte ist, die Trumps Blatt stechen kann. Dankbar wird die Realität verleugnet und die Öffentlichkeit belogen. Je mehr der  Niedergang unübersehbar wird, desto lauter dröhnen die Trommeln. Viele Journalisten ahnen, so zumindest steht es im Buch, was im Weißen Haus vor sich geht. Doch wer es offen ausspricht, wird  ausgegrenzt. Die Angst vor Trump rechtfertigt jede Lüge.  Die Dynamik der Verdrängung erfasst das gesamte politische System. Vierte Gewalt? Checks and Balance? Gefährlich.

"Hybris" ist das besorgniserregende Dokument eines Machtsystems, das außer Kontrolle geraten war. Ein  kollektives Schweigen lähmte die Demokratie. Loyalität zum Führer ersetzte Verantwortungsbewusstsein dem Land gegenüber. Die Autoren versuchen sich an einer Begründung, die die alle entlastet: Niemand habe das ahnen können, alle seien beschwindelt worden.

Mysteriöser innerer Kreis

Doch von wem eigentlich? Auch die beiden Autoren bleiben nebulös. Der "innere Kreis" um Bidens Frau Jill habe das Desaster angerichtet, er sei der Pate des Scherbenhaufens aus zerstörtem Vertrauen und verlorener Macht. Wer aber traf die Entscheidung, Biden noch einmal ins Rennen zu schicken? Wer war es, der meinte, mit einem Präsidenten, der sich wie eine Handpuppe führen lässt, zum Besten der Vereinigten Staaten zu handeln? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann, der womöglich stundenweise selbst nicht wusste, dass er der Präsident war, in den anderen Stunden bestimmt, dass er es bleiben müsse?

Es waren Barack Obama, Nancy Pelosi und andere demokratische Größen, die Bidens Kandidatur nach einigen hektischen Wochen der Ratlosigkeit ein Ende setzten. Dass sie zuvor nicht gewusst haben sollen, wie es um ihren Kandidaten steht, ist nahezu ausgeschlossen. Ließen sie ihn also trotzdem machen? Oder waren sie es, die ihn machen lassen wollten? Weil sie hoffen, mit dem verwirrten alten Mann noch einmal vier Jahre über die Runden zu kommen?

Die Frage wird nicht geklärt, die Logik aber spricht dafür. Niemand würde einen Politiker, der kaum mehr in der Lage ist, einen Text vom Blatt abzulesen, aufs Podium schieben, um ihn noch einmal zum  mächtigsten Politiker der Welt und zum Befehlshaber der größten Armee der Menschheit zu machen. Dass aber Biden selbst und der kleine Kreis seiner Familie und seiner engsten Getreuen ihn nach außen als tatkräftigen Macher im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte verkaufen konnten, erscheint ebenso unwahrscheinlich. 

Handzahm und gefolgschaftsbereit

Und selbst wenn: Da wären in normalen Zeiten ja immer noch die Medien, in den USA längst nicht durchweg so handzahm und gefolgschaftsbereit wie in Europa. Die aber schauten dem Treiben im  Weißen Haus nicht nur stumm zu, sie beschwiegen die katastrophalen Vorstellungen des Präsidenten nicht nur. Nein, abgesehen von den Fake News-Plattformen der erklärten Gegner der freiheitlich demokratischen Ordnung, beteuerten sie auch Tag für Tag, dass die offenkundigen Märchen über den leistungsfähigen und tipptopp fitten Präsidenten nicht als die Wahrheit seien.  

Selbst noch nach dem für Biden so desaströs entblößenden Auftritt im TV-Duell beteuerte Elmar Theveßen, der USA-Korrespondent des ZDF, vor Millionen Deutschen Fernsehzuschauern, dass Biden "absolut auf der Höhe" sei und nun erst richtig "fest im Sattel" sitze. 

Treu zur verlorenen Sache

Theveßen stand treu zur verlorenen Sache. Seine Beteuerung war nicht einmal höhnisch gemeint oder als Beleg dafür zu sehen, dass er die kognitiven Fähigkeiten seines Publikums geringschätzt. Nein, dieser Mann glaubte sichtlich an das, was er anderen einreden wollte. Es konnte und es durfte nicht sein, was nicht sein wollte, weil die  Geschicke der demokratischen Welt und damit der gesamten Menschheit aus Sicht der Medienschaffenden und Politiker, die an die unwiderstehliche Kraft der Demokratie glauben, allein von diesem einen alten Mann abhing.

Biden oder der Untergang, ein gebrechlicher Greis oder der damals noch als "Faschist" und "verurteilter Verbrecher" bezeichnete Trump. So war die Lage. Und nach der wurde in den Redaktionen entscheiden.  Wer Augen im Kopf hatte, sah, was zu sehen war. Die Abwehrkräfte einer Mediengesellschaft, die bei sowjetischen Gerontokraten jeden Stolperer analysiert hatte, richteten sich aber diesmal gegen alle, die beschrieben, was sie gesehen hatten. Videos von Bidens traurigen Auftritten wurden zu Cheap Fakes erklärt, Bidens Gehaspel zu "nicht immer präzisen" (Spiegel) Aussagen. 

Neuinterpretation der Realität

Bezeugt wurde die Neuinterpretation der Realität von den führenden westlichen Staatsfrauen und -männern. Sie, die einzigen Lebewesen auf Erden, die mit Biden im persönlichen Kontakt treten durften, damit der Schein gewahrt bleibe, mühten sich, mit der leeren Hülle des Präsidenten zu interagieren wie mit einem normalen Politikerkollegen. Ganze Armeen von Faktencheckern zogen aus, um die Wirklichkeit zu widerlegen.  Minutiös wiesen sie nach, dass der Augenschein trügt und niemand behaupten könne, Biden sei nicht jederzeit in der Lage, einen Marathon zu laufen.

Die Übung ist nicht neu. Auch Jean-Claude Juncker, der sichtlich malade Chef der EU-Kommission, erfreute sich ähnlicher Gnade, als sich seine verwirrten Auftritte mehrten. Er ging in zwei Paar Schuhen zugleich und das war wegen seines Rückens. Er befeuerte durch Kuss- und Umarmungsattacken auf Politikerkollegen Gerüchte, in seinem Wasserglas sei in der Regel "Gin" (Bild). Durfte sich aber darauf verlassen, dass sich immer Medien fanden, die gegen ein Lächeln vom Thron der Kommission bereit waren, seine wegweisenden Erwägungen ungeprüft weiter zu verbreiten.


Für den guten Zweck

Es dient einem guten Zweck, es diente damit allen. Folglich war nicht wichtig, ob es stimmt, es war nur wichtig, dass es nicht mit Beweisen widerlegbar sein würde. Überall dort, wo die Gefahr drohte und die Schutzschicht zwischen Realität und Narrativ dünn wurde, traten sofort Einsatzkräfte in Aktion. Ihre Verteidungslinie war immer die gleiche: Solche Behauptungen, hieß es, würden nur die Feinde der Demokratie stärken. Bidens Adminstration hatte vorgesorgt. Die großen sozialen Netzwerke löschten, was an Zweifeln und Hohn aufkam.

Auch in den Vereinigten Staaten war es vermutlich die Angst vor Donald Trump, die Medien zur Magd einer Machtkonstellation machte, die von sich behauptete, nur sie könne den Status Quo retten. Doch ausgerechnet die ungeheuerliche Dreistigkeit der Lügen, die dazu benutzt wurden, war es dann, die Trump schließlich zum Sieg verhalf.  

Mit religiöser Inbrunst

Weil außerhalb der mit religiöser Inbrunst an das Märchen vom topfitten Präsidenten glaubenden Gemeinde niemand mehr der Idee folgen wollte, dass Medienerzählungen richtiger sind als die eigene wahrnehmung, reicht der angerichtete Schaden viel weiter und tiefer als der, den die Demokraten für sich beklagen. Medien, die sich nicht mehr kritisches Korrektiv begreifen, sondern als Wahlhelfer und Schutzorgane, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. 

Und am erstaunlichsten: Sie haben es bis heute nicht einmal bemerkt: Das Manöver des mysteriösen inneren Kreises, die Enthüllungen über den Präsidenten mit der traurigen Nachricht über dessen Krebserkrankung zu kontern, hat geklappt.



Donnerstag, 22. Mai 2025

Anschlussverwendung für Altkader: Er ist wieder da

Karl Lauterbach SPD Astronaut Karikatur
Nach dem Gesundheitsbereich übernimmt Karl Lauterbach jetzt die Raumfahrt.

Karl der Käfer wurde damals nicht gefragt, man hat ihn einfach fortgejagt. Karl Lauterbach blieb dieses böse Schicksal erspart. Zwar sortierte Lars Klingbeil, der neue mächtige Mann an der Spitze der SPD den einstigen Hysteriebeauftragten der deutschen Sozialdemokratie und späteren Bundesgesundheitsminister im Zuge der Neuordnung der eigenen Reihen aus. 

Doch die Parteiführung hat dem Mann aus Düren eine Anschlussverwendung besorgt: Lauterbach wird Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung.  

Ein neuer Zauber

"Eine neue Aufgabe, neuer Zauber!", hat sich der 61-Jährige selbst über die neue Chance gefreut, die ihm neben der Beschäftigung mit seinen Kernthemen KI, Quantencomputern, Biotechnologie, Medizinforschung und Energieversorgung auch zum obersten deutschen Raketenparlamentarier macht. Lauterbachs Begeisterung für die Möglichkeit, künftig mit fragwürdigen Figuren wie Jeff Bezos und Elon Musk von Raumfahrtpionier zu Raumfahrtpionier sprechen zu können, ist groß. 

"Diese Bereiche bestimmen unsere Zukunft", hat er sofort erkannt und das Unerhörte getan. Karl Lauterbach löschte sein ikonisches Selfie mit Annalena Baerbock und Robert Habeck, das zum "Start des eigentlichen Projektes" im Dezember 2021 entstanden war. Störrisch hatte der gelernte Gesundheitsökonom das Foto selbst noch stolz vorgezeigt, als die Ampel schon nur eine Fußgängerampel war und ihr Verfallsdatum wie eine Fahne vor sich hertrug.

Neustart für Lauterbach

Vorbei, vergessen. Karl Lauterbach wagt den Neustart, was bleibt ihm auch übrig. So viele andere, gute Genossen mit kernigen Grundüberzeugungen, sind auf der Strecke geblieben. Länderproporz, persönliche Animositäten, zu alt, zu links, zu rechts, zu wenig aus dem Osten. Hubertus Heil, der sich auf dem üblichen Weg als Mitarbeiter von Abgeordneten Ende der 90er Jahre zum ersten Mal bis in den Bundestag gedient hatte und zuletzt Arbeitsminister war, steht auf einmal vor dem Nichts eines Lebens als ganz gewöhnlicher Hinterbänkler.

Es gibt keine Dankbarkeit im politischen Berlin, schon gar nicht denen gegenüber, die es gewagt haben, die Parteiführung mit deren eigenen Waffen anzugreifen. Heil etwa richtete aus Sicht der SPD-Spitze Schaden an, als er den kleinen Arbeitern, Angestellten und Arbeitssuchenden in seinem Verantwortungsbereich unabgesprochen die Einführung des Klimageldes zum "sozialen Ausgleich" der politisch organisierten hohen Preise für Energie und Lebensmittel versprach, das die Ampelkoalition zu diesem Zeitpunkt bereits in aller Stille beerdigt hatte. 

Urteil ohne Murren

Wer so blauäugig an den Schlaf der Welt rührt, das ist im Parteivorstand seitdem unumstritten, gehört nicht in verantwortliche politische Positionen. Heil hat das Urteil ohne Murren akzeptiert, ganz im Gegensatz zu Saskia Esken. Die frühere Parteivorsitzende hatte von ihrer anstehenden Verrentung aus der Zeitung erfahren und sich  anschließend bitterlich darüber beklagt,  wie schwer es Frauen in der Spitzenpolitik haben. Obwohl sie den Niedergang der früheren Volkspartei  SPD ja gemeinsam mit Lars Klingbeil organisiert habe, werde nur sie bestraft, so ließen sich die Einlassungen der 63-Jährigen lesen.

Beim Landesparteitag der SPD  in Duisburg kam das gut an. Als wäre es ihre eigene Idee gewesen, thematisierten Delegierte in scharfem Ton, dass Klingbeil nach den vielen Wahldebakeln immer mächtiger werden, Esken aber vom Hof gejagt wird. "Das ist unanständig, was da gelaufen ist, dass wieder die Frauen kassieren und die Männer den Top-Job kriegen", schimpfte ein anderer. 

Esken selbst setzte auf den Mitleidsbonus. Sie fühle sich gejagt, klagte sie, und zur "Buhfrau" gemacht.  Die Strategie verfing: Nur eine Woche später hatte ihr die Parteiführung den Vorsitz im Bundestagsausschuss für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugesagt.

Versagte Solidarität

Solidarität, so wichtig, dass die doppelt leiden, die ohne sie auskommen müssen. Die SPD müht sich  zumindest, ihre verdienten Genossinnen und Genossen angemessen unterzubringen - auch wenn die zur Verfügung stehenden Stellen rar sind und nicht jeder Altvordere bereit ist, einen Abstieg allein schon in der Dienstwagenklasse zu akzeptieren. 

Doch der Blick auf die Grünen zeigt, dass es auch anders geht, brutal geradezu und ohne Rücksicht auf Verluste. Nichts tut die erst im Herbst vergangenen Jahres vom damals faktisch allein herrschenden Parteipaten Robert Habeck neu installierte Führung für die, die in den schrecklichen Ampeljahren alles getan haben, um die Wählerinnen und Wähler gegen grüne Ideen, den Klimaumbau und die große Transformation aufzubringen.

Im Schatten des Übervaters

Steffi Lemke etwa, im Schatten des Übervaters Habeck als Ministerin gerade noch für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und zudem den gesamten Bereich des Verbraucherschutzeszuständig, steht vor dem Nichts. Ihre Partei hat augenscheinlich keine Verwendung mehr für sie, vielleicht, weil die umgebaute Spitze mit Dröge, Haßelmann, Brandtner, Banaszak und Audretsch wieder komplett westdeutsch besetzt ist. Demonstrativ hat es die Partei in den drei Monaten seit der Wahl nicht einmal geschafft, Lemkes offizielle Abgeordnetenseite zu aktualisieren. Ein deutlicher Fingerzeig, was der Ostdeutschen im Haifischbecken einer Partei droht, deren Beliebtheit seit 2021 sogar noch dramatischer eingebrochen ist als die der SPD.

Was war, soll weg. Die Gesichter, die Stimmen, die komplette Einsatzgruppe Talkshow. Sogar Robert Habeck haben sie aussortiert - der 55-Jährige Star des "Zusammen"-Wahlkampfes wurde gezwungen, proaktiv auf alle Ämter zu verzichten, die ihm ohnehin niemand mehr angeboten hätte.

Der große Sprung

Was für eine Zurücksetzung. Natürlich, wer entsprechende Verbindungen hat, der kann für sich selbst sorgen. Annalena Baerbock gelang so der große Sprung nach New York. Raus aus dem provinziellen Mustopf der deutschen Außenpolitik, einem Gefäß, das ihr immer schon zu eng gewesen war. Rein in die Weltpolitik, das globale Spiel, in dem über das Schicksal von Nationen entschieden wird. Auch in der grünen Partei waren sie dem Vernehmen nach glücklich, dass sich zur quengelnden und auf eine neue Chance drängenden Ex-Parteichefin Ricarda Lang nicht noch ein zweites prominentes Problem gesellt.

Wer für sich selbst sorgen kann, ist gut bedient in den Zeiten des Übergangs. Cem Özdemir etwa macht sich gute Hoffnungen, als Ministerpräsident in Baden-Württemberg ein neues Zuhause zu finden. Mit der Habeck-Taktik, sich schon vorab als eindeutig beliebtester Kandidat darstellen zu lassen, rechnet sich der auch als Grünen-Chef gescheiterte 59-Jährige Chancen aus, die ihm nicht einmal die Parteispitze verderben kann. Würden die Badener und Württemberger direkt wählen, wäre Cem Özdemir der sichere Sieger, heißt es aus seiner Kampagne. Die leichte Verzweiflung darüber, dass letztlich Parteien gewählt werden werden, ist kaum zu überhören.

Lauterbach ist untergebracht

Wenigstens Karl Lauterbach aber ist untergebracht, sicher, warm und an einem Ort, an dem er mit aktueller Politik fast gar nichts zu tun haben wird. Der als ganz besonders geltungsbedürftig und scheinwerfersüchtig bekannte frühere Christdemokrat galt parteiintern als schwerer Falle. Bei den Bürgern unbeliebt, in der Partei umstritten, von vielen Medien aber ausdauernd hoffiert, musste Lauterbach zumindest würdevoll geparkt werden.

Dass es mit dem Bundestagsausschuss für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung geklappt hat, ist ein Glücksfall für den Wissenschaftler und für das Land: Deutschland verfügt derzeit weder über eine Forschung jenseits der Grundlagenforschung noch über irgendeine originäre Art von Technologie abseits dessen, was die Großkonzerne aus den Vereinigten Staaten und Asien zur Verfügung stellen. 

Es droht kein Schaden

Auch die Raumfahrt, für die Karl Lauterbach in den kommenden vier Jahren den Hut aufhaben wird, besteht aus hochfliegenden Träumen und Dauerbuchungen bei Elon Musks SpaceX. Deutschland, das Land, aus dem das erste menschengemachte Flugobjekt bis ins All flog, hat derzeit keine flugfähige Rakete. Besser konnte es nicht kommen, denn so wird sich Lauterbachs Ausschuss in aller Tiefe mit der Technikfolgeabschätzung beschäftigen können, jenem Angstbereich des Fortschritts, in dem Deutschland weltweit führend ist.