Montag, 2. Juni 2025

Ost-, Ost-, Ostdeutschland: Warum Meister nie aufsteigen

Der 1. FC Lokomotive Leipzig ist der 2003 neugegründete Nachfolger des FC Lok aus DDR-Zeiten.

Havel-was? Ein Dorf bei Hannover, keine 3.000 Seelen, ein Fußballplatz namens Wilhelm-Langrehr-Stadion, das 500 Plätze mehr hat als Havelse Einwohner. Die frühere TSV-Kampfbahn an der Hannoverschen Straße, erst vor wenigen Jahren zu Ehren eines örtlichen Bäckermeisters umbenannt, ist zum Ort der großen Niederlage des ostdeutschen Fußballs geworden.  

Mit einem deutlichen, verdienten und am Ende ein, zwei Tore zu niedrig ausgefallenen 3:0 im Relegationsrückspiel sicherte sich der TSV den Aufstieg in die 3. Liga. Der 1. FC Lokomotive Leipzig, nach eigener Lesart Ex-Meister, Ex-Pokalsieger und Ex-Europacupstarter, bleibt zurück in Liga 4.

Zurück in Liga 4 

Nicht nur geschlagen und nicht nur blamiert, sondern vorgeführt wie der gesamte Fußballosten. Dort wiegen sich Vereinsführungen, Fans und Medien traditionell im Gefühl, für Liga 4, rein technisch gesehen die oberste deutsche Amateurliga, sei viel zu schlecht für sie. Von Jena über Erfurt, Chemnitz bis Cottbus, den BFC Dynamo in Berlin, die 2003 unter dem Namen des Vorgängervereins neugegründete Lokomotive aus Leipzig, deren Ortsrivale Chemie und der Hallesche FC, überall glauben sie, dass mindestens Liga 3, eher aber doch Liga 2 als dauernder Aufenthaltsort für den eigenen Wettspielbetrieb angemessen sein.

Dass das Gros der Oberligavereine aus DDR-Zeiten heute dennoch in der vierten Liga herumdümpelt, eine Spielklasse, in der sich weiter westlich Größen wie Wiedersbrück, Rödinghausen und   Drochtersen/Assel oder Jeddeloh II tummeln, gilt als sportliche Ungerechtigkeit, die der Übermacht westlicher Verbandsfunktionäre zu danken ist. Obwohl im Osten der bessere Fußball gespielt wird, professionell, in fast durchweg nahezu nagelneuen modernen Stadien, mit Vollprofis als kickendes Personal und einer prallvollen Fankurve, in der Ultragruppen mit Feuerwerk, Nebeltopf und Quarzhandschuh jede irre Verwirrung nachspielen, die sich der großen Fußballbühne abgucken lässt, lasse eine Übermacht an Westvereinen den armen Osten einfach nicht hochkommen. 

Ostdeutsche Unterrepräsentation 

Keine Chance. 35 Jahre nach dem Ende des DDR-Fußballs ist die Lage schlimmer als im Bundeskabinett, schlechter als an den deutschen Universitäten, fürchterlicher als in allen Vorstandsetagen der großen Firmen. Dass mit Union Berlin und RB Leipzig nur noch anderthalb Vereine aus den ehemals neuen Bundesländern in der ersten Liga spielen, beklagte schon kaum mehr jemand. Immerhin gab es ja in der 2. Bundesliga noch Magdeburg. 

Unter den 36 besten Fußballclubs Deutschlands hielt sich der Anteil der Vertreter Ostdeutschlands damit zuletzt hartnäckig bei fast zehn Prozent, deutlich weniger als in guten Jahren, deutlich mehr als in den ganz schlechten. In der 3. Liga warteten aber mit Aue, Rostock, Cottbus und Dresden gleich vier Ostvereine auf die Chance, nach oben zu kommen. Und diesmal gelang es Dresden sogar, den Unfall von 2022 wiedergutzumachen und in die 2. Liga zurückzukehren: Den Meistertitel in Liga 3 holte sich zwar Bielefeld, ein Westverein. Doch Platz 2 reichte zum Aufstieg.

Scheitern hat Tradition 

Lok Leipzig dagegen scheiterte in der Relegation, einer Hürde, die den Meister der heute unter dem Namen "Regionalliga Nordost" firmierenden Ex-DDR-Oberliga immer wieder am großen Sprung nach oben hindert. Zehnmal haben Vertreter der selbsternannten stärksten Staffel der 3. Liga versucht, sich in einem direkten Kräftemessen mit dem Meister einer anderen Staffel durchzusetzen. Nur fünfmal gelang es. Abgesehen von den Ligen der RLSW Regionalliga Südwest GmbH, in der ehemals große Namen wie Offenbach, Stuttgarter Kickers und FSV Frankfurt herumdümpeln, ist die Bilanz keiner anderen Liga so schlecht.

Und aus keiner anderen  kommen deshalb seit Jahren immer lauter werdende Rufe, die Relegation, in der die eigenen Vertreter so oft scheitern, gehöre abgeschafft, denn "Meister müssen aufsteigen". Dabei handele es sich um eine Art Naturgesetz, dem vom Verband zur Geltung verholfen werden müsse. Nur weil die Fußballverbände drüben im Westen mehr Mitglieder haben und es dort mehr Vereine gibt, dürften die Regionalligen jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nicht erwarten, mehr Vertreter in den Profifußball entsenden zu können. Das sei nicht fair, heißt es von Rostock bis Aue und Cottbus bis Halle, die Ostvereine mehr Zuschauer anzögen, professioneller geführt seien und in den moderneren Stadien zu Hause.

Nur die Ansprüche sind groß

Sportlich steht die Überlegenheit auch kaum infrage. Im Gegensatz zu Jeddeloh II, einem Club aus  einer Bauerschaft Jeddeloh II in der Gemeinde Edewecht im niedersächsischen Landkreis Ammerland, der in der Haskamp-Arena mit einer Kapazität von 2000 Plätzen spielt, oder dem SV Eintracht Hohkeppel, dessen größter Erfolg bisher ein Jahr in der 3. Liga war, sind die Ansprüche im Nordosten andere. Vereinschefs jonglieren hier mit Millionenetats, Städte veranlassen ihre örtlichen Sparkassen und kommunalen Unternehmen zumeist, die sportlichen Aushängeschilder zu finanzieren. Das Treiben der heimischen Ultra-Gruppierungen gilt als Teil originärer ostdeutscher Sportkultur. Jede Prügelei, jedes fast gesprengte Spiel ist ein Argument mehr dafür, dass die provinzielle Bühne viel zu klein ist für die großen Ansprüche.

Die sind mittlerweile politisch. 17 Vereine der Regionalliga Nordost starteten Anfang des Jahres eine gemeinsame Initiative, um die vermeintliche Benachteiligung des Ostens durch die aktuellen Aufstiegsregelungen zu beenden. Eine Ligareform soll die 4. Spielkasse so neu aufteilen, dass alle Meister aus allen Staffeln aufsteigen - für den Osten wäre das ein Gewinn, für den Westen ein Minusgeschäft. Dass es so kommt, scheint damit eher unwahrscheinlich.

Schlechte Verlierer 

Und wie schon 2020, 2022 und 2023, als sich der Meister der Regionalligastaffel Nordost in Relegationsspielen gegen Meister anderer Staffeln hätte durchsetzen müssen, um aufzusteigen, klappte es auch diesmal nicht. Der FC Lok schaffte daheim ein mühsames 1:1. Im Rückspiel dann wurden die Sachsen, ausgestattet mit einem Etat von angeblich drei Millionen Euro von der Provinztruppe aus Niedersachsen förmlich vorgeführt: Die Mannschaft des TSV, der seine Saison mit 200.000 Euro finanziert hat, siegte nicht nur klar und deutlich mit 3:0. Die Lok-Elf brach auch mental zusammen, Spieler verloren komplett die Nerven und lieferten das peinliche Schauspiel eines schlechten Verlierers. 

In den Gesichtern der Männer in Blau war zu sehen, wie sehr sie selbst an alles geglaubt hatten, was ihnen erzählt worden war. Bessere Liga. Professionellere Bedingungen. Bessere Spieler. Meister müssen aufsteigen. Müssen sie nicht, zumindest nicht, wenn sie sportlich nicht die Qualität mitbringen, sich gegen andere Meister durchzusetzen. So tragisch das Scheitern in einer Relegation ist, nach zahllosen Ligaspielen, die einen Verein am Ende zum Meister gemacht haben, so wenig tröstlicher ist die Lösung, die Zahl der Meister zu reduzieren, um sie automatisch aufsteigen zu lassen. Die Chancen auf den Aufstieg werden dadurch zwar für die einen größer, dafür aber die anderen kleiner. Und insgesamt gibt es für alle weniger davon.

Koch und Kellner: Strafsteuer für Amerika

Friedrich Merz  Weißes Haus  Donald Trump  Digitalabgabe  Plattform-Soli
Wer Koch und wer Kellner ist, wird Friedrich Merz am Donnerstag im Weißen Haus sehr deutlich machen.

Kurz vor peinlich kam er endlich, der seit Wochen ersehnte Termin. Friedrich Merz wird nach Washington reisen, mit nur unmerklicher Verzögerung, verglichen mit seinen Amtsvorgängern. Die stellten sich stets auch zuerst in den Nachbarstaaten vor. Unmittelbar danach aber ging es nach Übersee - zu partnerschaftlichen Gesprächen, sagten die einen. Zur Befehlsausgabe, raunten die anderen.  

Trump zögerte lange furchtsam 

Merz, der seine erste Begegnung mit Donald Trump am liebsten gleich hatte hinter sich bringen wollen, musste vier Wochen warten, bis das Weiße Haus Zeit für ihn fand. Das ist weniger lange als Angela Merkel auf grünes Licht von Barack Obama warten musste. Und auch weniger lange als Helmut Kohl auf Kohlen saß, ehe ihn Ronald Reagan endlich vorließ. 

Doch das Bangen war groß, ob es überhaupt zu einer Begegnung kommt. Würde Trump sich trauen, den neuen deutschen Kanzler vorzulassen? Und wie lange würde er brauchen, um sich ausreichend gewappnet für eine Begegnung zu fühlen, die über Wohl und Wehe des Westens entscheiden kann?

Der US-Präsident, das wird schon am Zeitablauf deutlich, hat Respekt vor dem neuen starken Mann Europas. Wenn Friedrich Merz am Donnerstag eintrifft, dann landet das kein lauer, vom Winde verwehter Verwalter europäischer Interessen in der US-Hauptstadt. Sondern ein selbstbewusster Wahlsieger, der einer Bundesregierung vorsteht, die in vier Wochen schon mehr geschafft hat als die Vorgänger in drei Jahren. 

Kein Bittsteller 

Merz hat dementsprechend schon vorab klargemacht, dass er als erster Bundeskanzler seit immer nicht auf Knien gerutscht kommt: Er komme nicht als Bittsteller, hat er signalisiert. Und Nachhilfe in Sachen Demokratie brauche Europa schon gar nicht. Selbstbewusst und ruhig will der Sauerländer dem gefürchteten US-Präsidenten in seinem Büro entgegentreten, im Rücken ein "Europa mit 500 Millionen Konsumenten", das "für viele US-Unternehmen der zweitgrößte Markt nach den USA selbst" sei. 

"Machen wir uns nicht kleiner, als wir sind", rückte der Kanzler die Verhältnisse zurecht, die gerade von den Amerikaner neuerdings immer gern geleugnet werden. Der Koch, der wohnt in Europa. Die Kellner, das sind die Amerikaner. Mögen deren aktuelle Anführer auch darauf verweisen, dass 340 Millionen US-Bürger ein Bruttoinlandsprodukt erzeugen, das ein Drittel über dem liegt, das 440 Millionen EU-Europäer zusammenbringen, so weiß Friedrich Merz doch, dass die Vereinigten Staaten mehr von der EU abhängig sind als umgekehrt. 

Der Hemmschuh USA 

Gelinge es nicht, sich zu einigen, hatte er Trump vor dem ersten persönlichen Treffen wissen lassen, dann müsse die deutsche Wirtschaft entscheiden, wie weit sie noch in den USA investieren wolle. "Und wir müssen politische Entscheidungen darüber treffen, wie wettbewerbsfähig wir sein wollen, notfalls auch ohne Amerika." Der Hemmschuh USA, der der EU wie ein Bleigewicht um den Hals hängt, er fiele dann weg. Ein Lastabwurf, der die Europäische Union endlich in die Lage versetzen würde, all die großen Ziele zu erreichen, die in der Vergangenheit immer wieder knapp verpasst worden waren.

Option eins ist das nicht, denn aus sentimentalen Gründen würde der erfahrene Atlantiker Merz gern weiter gemeinsam mit den Vereinigten Staaten dafür sorgen, dass klimagerechtes Wachstum überall mehr nachhaltige Gerechtigkeit erzeugt. Doch nicht um jeden Preis. Die Instrumente, um der US-Regierung klarzumachen, wer hier wen, hat Friedrich Merz demonstrative bereits auf den Tisch legen lassen. Noch vor der Bestätigung des Audienztermins ließ er seinen neuen Kulturminister Wolfram Weimer die Einführung einer neuen Strafsteuer für große Tech-Konzerne ankündigen, mit der die großen amerikanischen Tech-Konzerne künftig zur Kasse gebeten werden sollen. 

Niemand wer mehr zahlen müssen 

Diese "Digitalabgabe nach österreichischem Vorbild" würden etwa die Google-Mutter Alphabet und der Facebook-Konzern Meta treffen würde. Weimer drohte den US-Konzernen damit, dass eine entsprechende Gesetzesvorlage bereits vorbereitet werde. Sie ziele nicht nur auf Google, sondern "generell" auf "Plattform-Betreiber mit Milliardenumsätzen". Die neue Steuer ist wegen Merzens Versprechen, dass es keine Steuererhöhungen geben werde, von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin auf den Begriff "Plattform-Soli" getauft wurde, soll bei zehn Prozent vom gesamten Umsatz der Unternehmen liegen. Das sei "moderat und legitim" hat Weimer errechnen lassen.

Und lukrativ wäre es auch: Die Umsatzrendite bei der Google-Mutter Alphabet liegt etwa bei 20 bis 25 Prozent bei Meta bei 30 Prozent, Amazon kommt auf zehn Prozent. Würde Deutschland, das wie die gesamte EU über keinen bedeutsamen großen Internet-Player verfügt, nur die im Land anfallenden Gewinne besteuern, ließe sich mit den Einnahmen kaum eine ordentliche Panzerdivision aufstellen. Eine Steuer auf den gesamten Umsatz hingegen verspricht ein ordentliches Stück vom Milliardenkuchen.

Doppelter Abgabesatz 

Vorbild ist Weimer zufolge Österreich, wo große Online-Plattformen schon seit fünf Jahren verpflichtet sind, eine "Digitalsteuer" in Höhe von fünf Prozent aller Umsätze aus der Werbevermarktung an den Staat abzuführen. Im Nachbarland liegen die Wachstumsraten der Wirtschaft noch hinter den deutschen - beide Staaten liegen sich in der EU auf Platz 26 und 27. Das deutsche Modell verdoppelt den österreichischen Digitalabgabesatz deshalb, vermeidet aber wegen Merz' Absage an Steuererhöhungen den Begriff "Steuer". Zwar wäre die Einführung einer neuen Steuer faktisch keine Erhöhung, doch die Bundesregierung will den Eindruck vermeiden, dass Kunden der großen Plattformen am Ende zahlen müssten. 

Ausdrücklich hat Merz "Beauftragter für Kultur und Medien" deshalb versichert, dass Nutzer von Google, Meta-Diensten und anderen Internetangeboten nicht zur Kasse gebeten würden. Zwar verrät die vorsichtige Formulierung, die Abgabe habe in Österreich "keine relevante Preisveränderung für Nutzer mit sich gebracht", dass es durchaus eine Preisveränderung gegeben hat, mit der die Konzerne die Mehraufwendungen an ihre Nutzer weiterreichen. Doch wie die frühere Außenministerin Annalena Baerbock mit ihren Vorschlag von "zehn Cent für jedes Apple-Update" zielt Weimar darauf, "viel Geld" (Baerbock) einzuspielen, ohne dem Einzelnen so viel wegzunehmen, dass er es in der Brieftasche spürt.

Zustimmung von Millionen 

Mit der Ankündigung, dort zuzugreifen, wo das Geld sitzt, kann sich die Bundesregierung der Zustimmung von Millionen sicher sein. Wichtig sei, dass die "Konzerne endlich einen kleinen Steuerbeitrag für die Gesellschaft leisten, also ihre gewaltige Marge etwas sinkt." Eine Steuer in Höhe von zehn Prozent des Umsatzes wäre für Deutschland deutlich lukrativer als die Körperschaftssteuer auf Gewinne in Höhe von 21 Prozent, wie sie die USA erheben.

Bereits 2021 meldete Google für Deutschland einen Umsatz von 11,3 Milliarden Euro, Amazon liegt bei über 30 Milliarden, Meta komme auf etwa fünf Milliarden. Für den deutschen Fiskus ergäbe sich mit der Einführung des Plattform-Soli eine zusätzliche Einnahme von mindestens fünf Milliarden Euro.

Mit den Plänen zur Durchsetzung einer solchen Vorschrift, im politischen Berlin intern "Multimediamelkmaschine" genannt, setzt Weimer einen Arbeitsauftrag aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD um. Dort heißt es unter der umsichtig formulierten Überschrift "Medienvielfalt stärken - Meinungsfreiheit sichern", dass man die Einführung einer Abgabe für Online-Plattformen prüfen werde, "die Medieninhalte nutzen". Damit gemeint sein kann alles und jedes Unternehmen, von ARD und ZDF bis hin zu Kinoketten, Radiosendern und Internetanbietern. 

Erlöse für den Medienstandort 

Auch das Versprechen, die "Erlöse" sollten "dem Medienstandort zugutekommen", verrät nicht, was genau CDU, CSU und SPD mit dem anvisierten Milliardensegen planen. Sicher ist nur: Im angespannten transatlantischen Verhältnis und inmitten des Zollstreits mit den USA wird die Ankündigung der neuen Steuer für US-Konzerne zu einer weiteren Verschärfung des aktuellen Konflikts führen. 

Ganz im Sinne von EU-Chefin Ursula von der Leyen, die zuletzt schon deutlich gemacht hatte, dass die EU bereit ist, als Vergeltungsmaßnahme im Zollkrieg auch eine neue EU-Steuer für digitale Dienste zu erheben, prescht Merz kurz vor seinem Besuch in Washington vor. Einziger Unterschied: Der neue Kanzler setzt auf einen nationalen Alleingang, der Geld in die klamme Bundeskasse spülen soll. Die Kommissionschefin  hingegen hatte eine europäische Lösung anvisiert. Die Einnahmen aus der Digitalsteuer, wie sie Mitte April noch genannt wurde, sollten einen EU-Fonds speisen, mit dessen Hilfe die bewährten EU-Vorschriften für die Pflege der Meinungslandschaft gegen Angriffe aus dem Ausland verteidigt werden könnten.  

Aufrecht bis zur Abschaltung 

Knicke die US-Regierung von Präsident Donald Trump nicht dankbar ein, sei eine Strafsteuer für US-Konzerne eine von "vielen möglichen Gegenmaßnahmen", sagte die Deutsche der "Financial Times". Der Gefahr, den Zugang zu den Diensten von Google, Microsoft, X, Facebook und den anderen im Netz dominierenden Konzernen zu verlieren, schaut die EU-Kommission dabei gelassen ins Auge. 

Um keinen Preis werde man die weltweit als vorbildlich geltenden EU-Vorschriften für digitale Inhalte und Marktmacht, die Trump-Beamte heute schon als Sondersteuer für US-Big-Tech-Unternehmen ansehen, zurücknehmen. Sondern eher noch neue Lasten aufsatteln, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Merz' Münsteraner Eröffnung hat den Traum der Kommissionspräsidentin von jahrelangen Verhandlungen auf dem Weg zu europäischer Einigkeit allerdings über Nacht zunichte gemacht. Vor allem aber hat sie Merz als mächtigen Gegenspieler Trumps etabliert: Der deutsche Kanzler kommt nicht mit leeren Händen, sondern mit einem ganzen Sack schmerzhafter Konsequenzen für Amerika. Um Schaden von der US-Wirtschaft abzuwenden, muss Donald Trump ein Angebot machen, das Merz gnädig stimmt.

Widerstand gegen die Strukturen 

Wolfram Weimer sieht das ähnlich. "Es muss sich jetzt etwas ändern", hat der frühere Journalist auf Deutschlands derzeit noch so fatale Abhängigkeit von der technologischen Infrastruktur der Amerikaner hingewiesen. "Wenn Google den Golf von Mexiko auf Druck von Donald Trump eigenmächtig in "Golf von Amerika" umbenennt und aufgrund seiner enormen Deutungsmacht in der globalen Kommunikation das einfach dekretiert, dann erkennen wir, welche Probleme in den derzeitigen Strukturen lauern." 

Trump setze solche Änderungen im Alleingang durch, handstreichartig, weil er auf seine Tech-Verbündeten vertreuen könne. Die weltweite Bekanntgabe deutscher Umbenennungen hingegen würden wie bei der Neubenamung der Berliner Mohrenstraße in Sirimavo-Ratwatte-Dias-Bandaranaike-Straße verzögert und verschleppt. Ein digitaler Soli könnte auch dieses Problem schnell aus der Welt schaffen.

Hoffnung auf Neuanfang 

In Kürze wird es so weit sein. Betrieben die großen Plattformen bisher mit Hilfe von willfährigen Steuerparadiesen "geschickte Steuervermeidung" (Weimer), die nationale und europäische Behörden immer zwang, sich über langwierige Gerichtsverfahren einen Anteil an den erwirtschafteten Gewinne zu holen, wächst jetzt die Hoffnung auf einen Neuanfang. 

Strategisch geschickt hat Merz die Ankündigung der deutschen Gegenmaßnahmen kurz vor seinen Besuchstermin in Washington gelegt. Was wie ein brüsker und ungeschickter Angriff auf Amerika aussieht, könnte den US-Präsidenten zur Besinnung bringen. Die digitale Drohung wird ein demütigendes Debakel verhindern, wie es der ukrainische Präsident Selenskyj und der südafrikanische Staatschefs Ramaphosa vor laufenden Kameras im Oval Office erlebt hatten. Bewaffnet mit der Zusatzsteuer, kommt Merz als starker Mann nach Washington, eine Führungsgestalt der EU, die beinhart verhandeln wird. "Zugewandt, aber selbstbewusst", wie der Bundeskanzler seine Strategie selbst beschrieben hat.

Einen  guten Draht zu Trump wird sich der Mann aus dem Münsterland nicht erbetteln. Auf einen groben Klotz wird er einen groben Keil schlagen und zeigen, dass Deutschland gut auch ohne Amerika kann, ein großer Handelskonflik für das Weiße Haus aber deutlich schwieriger durchzuhalten sein wird.

Sonntag, 1. Juni 2025

Erdbeerpreis für von der Leyen: Karls Enkelin

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Das berühmte Foto vor der Erdbeertapete wird am Ende der Preisverleihungszeremonie von jedem neuen Träger des Karlpreises angefertigt. 

Dass sie ihn noch nicht gehabt haben soll, nach so vielen Jahren der treuen Dienste an Europa und den Menschen, es erscheint kaum vorstellbar. Schon seit 2004 ist Ursula von der Leyen eine aus der Riege der europäischen Spitzenpolitik, die nicht wegzudenken ist aus den Wohnzimmern so vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Welt erlebte Zeitenwenden wie noch nie, die in Belgien geborene Niedersächsin aber wechselte allenfalls das Amt.  

Wo immer die Partei 

Von der Leyen bewährte sich überall, wo immer die Partei sie hinstellte, zeigte sie Leistung. Wäre die heute 69-Jährige Frauenfußballerin, hätte jeder Trainer die Qual der Wahl: Von der Leyen ist im Tor die Beste, aber auch auf Linksaußen, im Sturm und im Mittelfeld sowieso. Bis heute ist sie die deutsche Politikerin, die den Rekord für die meisten jemals geführten verschiedenen Ministerien hält. Sieben ressorts waren es insgesa, gesundheit nicht mitgerechnet, denn die verantwortete sie nur auf Landesebene. Es wären noch mehr geworden, aber dann  kam der Ruf aus Brüssel. Und von der Leyen folgte, um Schaden von Partei, Land und Volk abzuwenden.

Dass sie nun endlich dran ist mit dem Karlspreis, jener legendären Auszeichnung, die vor ihr schon ihr Vorgänger Jean Claude Juncker als "Motor für Europa" entgegengenommen hatte, überrascht dennoch. Längst meinten viele, sie habe ihn doch sicher schon. Schließlich bekam sie auch die "Goldene Henne", den Distinguished Leadership Award des Atlantic Council  und der Global Goalkeeper Award der Bill and Melinda Gates Foundation. Aber so ist sie nicht, die Unermüdliche. Ursula von der Leyen drängt nicht nach Ehrungen und Preisen, ihre Anerkennung sind Respekt und Hingabe von Millionen und Abermillionen Europäern, die sie schätzen und hochachten und sie zuletzt sogar an die Spitze der EU-Kommission zurückwählten, obwohl sie gar nicht kandididert hatte.

Pralle Beeren  

Die Bundesverdienst- und Großkreuze, die sich andere Politiker im höheren Alter im Dutzend umhängen lassen, um noch einmal mit Blech und Tand zu glänzen, bedeuten ihr nichts. Der Karlspreis aber, alljährlich von Robert Dahl, dem Chef des Freizeitunternehmens Karls Erdbeerhof, ist ein ganz anderes Kaliber. Benannt nach Karl Dahl, der seit 1921 einen Hof in der Nähe von Rostock bewirtschaftet hatte und seine prallen Beeren auf dem Wochenmarkt feilbot, wird der Ehrenpreis ausschließlich an hauptamtliche Europa-Politiker vergeben. Niemand, der sein Leben dem Kontinent gewidmet hat, sagt da nein.

Nicht einmal die bescheidene Ursula von der Leyen. Im ehrwürdigen Krönungssaal des Aachener Rathauses, wo einst siegreiche Könige zu Kaisern gekrönt und Geschichte geschrieben wurde, erstrahlt Europa beim Festakt in der Pracht eines französischen Kaiserhofes. 

Erst die achte Frau 

Unter den goldenen Lüstern und vor den Augen einer illustren Schar aus Staatschefs, Wirtschaftsführern und kulturellen Koryphäen nimmt Ursula von der Leyen die bei den bisherigen 74 Versuchen erst achtmal an eine Frau vergebenen Ehrenpreis entgegen. Diese Auszeichnung spiegelt nicht nur ihre Verdienste, sondern die Seele Europas selbst. Erstmals in seiner Geschichte ist der Karlspreis mit einer Million Euro dotiert, gestiftet von der Stiftung eines Aachener Unternehmerpaares, das sich entschieden hat, nicht den Armen zu geben, sondern denen, die etwas zu sagen haben.

Von der Leyen erweist sich dieses Vertrauens würdig. Doch gewaltige Summe, nach der Kaufkraft des Jahres vor der Euroeinführung immerhin eine Million D-Mark, wird nicht auf das Konto der Frau wandern, die gar keine Zeit hätte es auszugeben. Nein, Ursula von der Leyen nutzt ihren Zugang zu den großen Medien, um  die Million mit einer Geste der Selbstlosigkeit in die Hände der Schwächsten zu legen. Ukrainische Kinder, die unter dem Schatten des Krieges leiden, sollen das Geld bekommen, das hat von der Leyen schon vorab klargestellt.

Vibrationen der Erwartung 

Umso wärmer ist der Empfang in Frankfurt, das sich nach Monaten der Dürre und der Hitze luftig und kühl zeigt. Die Luft im Krönungssaal vibriert vor Erwartung, als die Fanfaren erklingen und die Türen sich öffnen. Ursula von der Leyen, in schlichtem, doch würdevollem Dunkelblau mit gelbem Halstuch,  schreitet ein, begleitet von den Klängen eines Streichquartetts, das Händels "Scharade" in d-Moll spielt und die Herzen der Anwesenden zum Schwingen bringt. 

Der Saal, prall gefüllt mit den Vertretern der 27 Mitgliedsstaaten, erhebt sich wie ein Mann und eine Frau. Unter den Gästen sind bekannte Namen, berühmte Fernsehschaffende, Politiker und Wirtschaftsführer. Doch keiner von ihnen will heute im Mittelpunkt stehen. Alle Scheinwerfer sollen sich nur auf die richten, die Europa vor Corona gerettet und derzeit dabei ist, den Kontinent zu einem "Stachelschwein" aufzurüsten, an dem sich der russische Bär den Kiefer brechen wird.

In stürmischen Zeiten 

Alle sind sie gekommen, um die Frau zu ehren, die Europa in stürmischen Zeiten mit ruhiger Hand lenkt, Trump die Stirn bietet und den Massen voranschreitet. Die Laudatio hält Robert Dahl selbst, Urenkel des Gründers von Karls Erdbeerhof, ein großgewachsener Bauer, der den Vorsitz des Karlspreis-Direktoriums in alter Familietradition führt. Seine Worte sind wie eine poetische Hymne. Ursula von der Leyen sei nicht nur "die Präsidentin von 450 Millionen Europäern", sie sei auch die "Präsidentin der Herzen", die mit unerschütterlicher Kraft und einem untrüglichen Gespür für Gerechtigkeit Europa immer weiter eine.

Wo andere den Traum von den Vereinigten Staaten von Europa aufgegeben und sich in die Büsche geschlagen haben, träumt sie weiter. "Ursula von der Leyen hat Europa zu einer moralischen Bastion in einer Welt voller Unruhen gemacht", lobt Robert Dahl. Applaus brandet auf, mächtig wie die Wellen der Nordsee, und doch ist es die Stille, die folgt, die die wahre Tiefe dieses Moments offenbart. Gerührt steht von der Leyen inmitten des Schweigens. Eine Architektin der Einheit. Aber eben auch ein Mensch.

Sie und "Hera" 

Ja, diese Frau, eine ganz  normale Christdemokratin aus Niedersachsen, sieben Kinder, Dr. med und graduiert, hat Europa in den letzten Jahren geprägt wie wenige vor ihr. Ihre Gründung der Europäischen Gesundheitsunion, ein Meilenstein in der Geschichte des Kontinents, wurde zur Antwort auf die Pandemie, die die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Inmitten globaler Unsicherheiten schuf sie Strukturen, die nicht nur das Leben der Bürger schützten, sondern auch die Solidarität zwischen den Nationen stärkten. Impfstoffe wurden per SMS bestellt, auf dem kleinen Dienstweg. "Hera" entstand, eine Gesundheitsunion, die Europa als Vorreiter globaler Gesundheitspolitik etablierte.

Das hat ihr niemand vergessen, das ist das wonach heute immer noch gefragt wird. Die Geschichte der Pfizer-SMS - jene rätselhaften Nachrichten, die wie ein moderner Mythos die Schlagzeilen füllten -bleiben ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Geheimnis. Mit der Eleganz einer Diplomatin navigierte von der Leyen durch die Kontroverse, ohne je den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren: die Sicherheit und das Wohl Europas. 

Schweigende Stimme 

Doch nicht nur in der Krise rund um die Gerichtsverfahren, die Neugierige gegen sie anstrengten, bewies sie Charakterstärke. Ihre Fähigkeit, die Interessen der EU in einer Welt voller geopolitischer Spannungen zu vertreten, brachte sie bis nach China und in die Türkei, wo sie am Katzentisch saß, aufrecht und würdevoll. Und "mit der starken Stimme Europas schwieg", wie das Karlspreis-Direktorium treffend formulierte. 

Kritiker mögen flüstern, mögen ihr elitäre Angehobenheit nachsagen und eine Abkapslung im raumschiff Brüssel. Doch die Bürger Europas wissen: Ihre Präsidentin handelt nicht für Ruhm, sondern für die Gemeinschaft, wie auch ihre großzügige milde Gabe an die ukrainischen Kriegskinder zeigt. 

Kinder seien unsere Zukunft, sagt von der Leyen, und ihre Worte hallen nach wie ein Versprechen, das über die Grenzen Europas hinausreicht. Reporter, die als erste eingeladen waren, von dieser noblen Geste zu berichteten, nennen es "einen Akt, der die Essenz Europas verkörpert: Solidarität, Mitgefühl und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen." Gäste im Saal nennen es schlicht "typisch Ursula".

Mit Tränen der Rührung 

Sie alle erheben sich, mancher kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ist dieser eine Moment, der die Seele Europas greifbar macht. Robert Dahl kommt mit der breiten Karlspreiskette, das Sinfonieorchester lässt eine Abwandlung von Beethovens "Für Elise" als "Für Ursula" aufbrausen. 

Im Sonnenlicht glänzt die berühmten Karlspreis-Tapete mit den typischen sinnbildlichen Erdbeerfrüchten. Die Verleihung wird zum Schauspiel enger Geschlossenheit, als die feierliche Prozession vom Rathaus zum Domplatz zieht. Kinder in weißen Gewändern, die die Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten tragen, säumen den Weg, während ein Chor die Europahymne "Ode an die Freude" intoniert.

Die Symbolik ist gewollt: Wie Karl Marx, der Namensgeber des Preisstifters, vereint von der Leyen die Völker Europas unter einem gemeinsamen Banner. "Ursula von der Leyen verwaltet Europa nicht nur, sie war es, die ihm eine Seele gegeben hat", tuschelt es später in den Gängen. Sie habe "uns gezeigt, dass Einheit keine Utopie ist, sondern eine lebendige Kraft", sagt ein anderer und im Flur bricht spontan tosender Applaus aus. Nicht einmal bei der Verleihung des Preises an Jean-Claude Juncker, jenen Solitätr europäischer Zustände, spielten sich solche Szene ab, sagen Karlspreis-Kenner.

Selbst ist der Höhepunkt 

Doch es ist von der Leyen selbst, die den Höhepunkt des Tages setzt. Mit fester Stimme, doch sichtbar bewegt, nimmt sie den Preis entgegen – eine bronzene Statuette, die Karl den Großen als Brückenbauer zeigt, gestaltet von einem Künstlerkollektiv aus Maastricht. 

Jetzt spricht die Stimme der Herzen und sie singt eine Hymne an die Zukunft Europas. Klimawandel, Krieg, Zölle, die digitale Revolution. Überall brennt es, aber Europa schläft nicht. Die Botschaft ist klar: "Europa ist mehr als ein Markt, mehr als eine Währung. Europa ist ein Versprechen – ein Versprechen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit."

Draußen, vor dem Rathaus, haben sich einige Demonstranten versammelt - ein paar Dutzend, die mit Plakaten gegen die Macht der EU wettern, die mäkeln und schimpfen. Doch ihre Stimmen verklingen an diesem Tag ungehört im Wind.

CO2-Pläne: Eine Angst geht um in Europa

Als erster Kontinent der Erde will Europa klimaneutral werden. Je steiler der CO2-Preis steigt, desto näher rückt das Ziel.

Die Wetten laufen und sie stehe nicht gut für die EU-Kommission und die Regierungen der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Der Wind der Wirklichkeit, dieses höllische Kind, es weht den Planern und Umsetzern der großen Visionen der Gemeinschaft steif ins Gesicht. Noch beschwören sämtliche Instanzen, dass es natürlich bei der aktuellen Beschlusslage bleiben werde. Ab 2027, spätestens aber 2028 wird der sogenannte "CO₂-Preis" planmäßig weiter erhöht werden. So steht es geschrieben. So wird es gemacht.

Und wieder dieses Wehklagen 

Doch damit, diese Erkenntnis sickert langsam, langsam aus der Fläche in die Spitze, steigen auch die Kosten für Heizen und Tanken für Lebensmittel, für den Wohnungsbau, die in der EU verbliebene Industrie, die Landwirtschaft, für Bildung, Verkehr und Gesundheit. Starke Schultern werden das achselzuckend leicht nehmen. Alle anderen aber erneut mit dem lauten Wehklagen beginnen, das die gesamte große Transformation der Europäischen Union zu einer nachhaltig klimafesten Phalanx der Verteidigung der Pariser Beschlüsse von 2015 beinahe vom ersten Tag an begleitet hat. Wer soll das denn noch bezahlen. Wie sollen wir so leben. Wie soll das weitergehen, wenn der Fleißige immer der Dumme ist.

Alles war gut gemeint und gut formuliert. 2019 wurde die Einführung einer neuen Steuer auf Kohlendioxid beschlossen, aber erst für in zwei Jahren. Der Einführungspreis lag bei zehn Euro, zu wenig, als dass jemand sich empört hätte. Später stieg der Pries, aber das war nicht schlimm, denn schon demnächst, so versprachen alle Parteien der demokratischen Mitte, würden alle Einnahmen als "Klimageld" an die Bürgerinnen und Bürger zurückzahlen - je mehr, je fleißiger sie beim CO₂-Sparen mittaten.

Niemand macht mit 

Knapp vorbei ist auch daneben. Aus der Rückzahlung wurde nichts, aus den zaghaften zehn Euro zum Start aber wurden 55.  Das alles funktionierte nicht, kein bisschen, und niemand auf der ganzen Welt beeilte sich, es der EU nachzumachen. Aber versprochen ist versprochen und wer in die falsche Richtung läuft, schafft es oft trotzdem an irgendein Ziel, wenn er sich beeilt. 

Gerade die EU ist dafür bekannt, dass keine andere Weltgemeinschaft  so viele schöne Ziele hat wie sie. Ein ganzer Bürokratenapparat ist in Brüssel damit beschäftigt, die 450 EUntertanen mit Planvorgaben, Richtlinien und strengen Regeln zu versorgen. Teil der großen Tradition der Kommission ist es dabei, nicht nur hehre Vorhaben und ehrgeizige Umsetzungspläne zu verkünden, die jedes Mal nichts weniger als die Welt zu retten versprechen. Sondern diese eigenen Absichten auch klug zu managen, mit Augenmaß und ohne ideologische Verbohrtheit.

Einmalige EU-Leistungen 

Als einmalig gilt die Leistung der EU, in den 32 Jahren ihrer Existenz als Union noch jedes einzelne ihrer großen Ziele verfehlt zu haben, ohne dass die Gemeinschaft deshalb zur Lachnummer für andere Staaten, Medien und die EU-Öffentlichkeit geworden wäre. Der Kniff, mit dem das gelingt, ist denkbar einfach: Immer wenn sich abzeichnet, dass Plan scheitern oder ein Ziel verfehlt werden wird, werden die Zielvorgaben prompt weiter verschärft. Und der Termin, an dem sie erreicht werden sollen, weiter in die Zukunft verschoben.

Die Liste der großtaten, mit denen erfolgreich so verfahren wurde, ist endlos lang, sie reicht von den offenen Schengen-Grenzen über die Lissabon-Strategie und den großen Plan "Europa 2020" bis zum Aufbauplan nach der Corona-Pandemie, der Gesundheitsunion Hera und dem "Green Deal". Eintragungen im großen Buch der EU-Geschichte, die allesamt Zeitenwenden hätten bringen sollen, schließlich aber vertagt und wohlweislich gründlich vergessen wurde, als nicht mehr zu leugnen war, dass sie sich als Schlag ins Wasser herausgestellt hatten. War die EU damit blamiert? Hatte sich herausgestellt, dass Ziele keine Ziele erreichen? Und Pläne immer nur auf dem Papier stehen?

Apparat auf Autopilot 

Selbstverständlich nicht. 80.000 EU-Beamten, ein nach Hunderttausenden zählendes Heer von für EU-Angelegenheiten zuständigen Mitarbeitern in den 27 Mitgliedsstaaten und eine unüberschaubare Armada von tausenden von Lobbyfirmen, Berater und Experten in Think Tanks, an Universitäten und in von der EU finanzierten nichtstaatlichen Organisation ist beständig weiter daran, neue Zielvorgaben zu formulieren. Die eine Hälfte des Apparates ist auf Autopilot damit beschäftigt, Fünf-Jahr-Pläne zu erstellen. Die andere hat die Aufgabe, die Erfüllung zu überprüfen. Zeigt sich, dass es wieder nichts wird, heißt es umplanen. Es wird weiter werden, Nur später irgendwann, dann aber deutlich besser. 

Im Gegensatz zu früheren Planwirtschaften fälscht die EU keine Bilanz. Sie zieht keine, sondern ersetzt alte Ziele durch neue. Da die unangenehme Eigenschaft der Zeit an sich darin besteht, die selbst eine ferne Zukunft mit jeder Minute immer näher an die Gegenwart zu rücken zu lassen, hat die sogenannte Umzielung in Europa Prozesscharakter: Stets und ständig erfordern zwingende Notwendigkeiten, Ziele so zu verändern, dass nicht überall und jedem sofort ins Auge springt, wie sehr die Mitgliedstaaten trotz aller Schwüre beim Erreichen versagt haben.

Verschieben, erleichtern und nachschärfen 

Routinemäßig wird  dann verschoben, erleichtert und so nachgeschärft, dass vom Ursprungsvorhaben nur der Name bleibt. Das war beim geplanten Verbrenneraus so und es wird beim Lieferkettengesetz so sein und auch bei der als "CO2-Abgabe" bezeichnete Kohlendioxidsteuer nähert sich trotz aller anderslautenden Bekundungen das Tag, an dem die Furcht vor dem Volk gewisse Planänderungen nahelegen wird.

Jetzt schon geht eine Angst geht um in Europa und im politischen Berlin. Es ist die Angst davor, sich ein weiteres Mal böse verspekuliert zu haben. Als der Deutsche Bundestag vor fünf Jahren auf Geheiß aus Brüssel die Einführung einer CO2-Steuer beschloss, klang das alles sehr elegant: CO2 zu emittieren würde teuer. Menschen und Fabriken würden es folglich vermeiden, CO2 zu produzieren. Sie würden ausweichen auf Wärmepumpen, Elektroautos und Lastenräder. Mit 15 Millionen Elektrofahrzeugen, die  2030 allein auf deutschen Straßen unterwegs sein würden, könnte glatt mehr CO₂-Abgabe gespart werden als überhaupt fällig sei. 

Angriffe auf die Elektromobilität 

Dass der Hochlauf der Elektromobilität plötzlich stoppte, als linke Aktivisten die Fabriken des US-E-Auto-Pioniers Elon Musk angriffen und der grüne Bundesklimaminister die Förderung stoppte, konnte niemand ahnen. Auch dass die EU-Kommission die laut geforderte Einführung billiger E-Autos für die vielen weniger Wohlhabenden durch Strafzölle für chinesische Hersteller unterband, war kaum abzusehen gewesen. Die Konsequenzen aber wetterleuchten an der Wand: Bedrohlich naht der Tag der Abrechnung, wenn der bisher staatlich festgelegte CO₂-Preis sich am Markt bilden soll, frei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Wie hoch wird er dann sein? Aktuelle Prognosen des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS) reichen von 70 Euro pro Tonne bis zu 150 Euro pro Tonne im Jahr 2030. Laut einer Berechnung der EU-Kommission würden die Benzinpreise schon bei einem CO₂-Preis von 45 Euro um elf Cent pro Liter steigen, bei 70 Euro wären es 20 Cent, bei 150 Euro sogar mehr als 30. 

Parallel klettern auch die übrigen Kosten: Wer heizt oder isst, wer duscht oder kocht, wird zur Kasse gebeten. Der Betrieb einer Gasheizung würde bei einem CO₂-Preis von 70 Euro 217 Euro teurer, bei 150 Euro um knappe 500. Alle Ausgaben zusammengerechnet, auf die der CO₂-Preis direkt oder indirekt aufgeschlagen wird, droht eine erneute Preisexplosion, die absehbar für Unmut sorgen wird.

Wird es jemand merken? 

In Brüssel rechnen sie, in Berlin auch. Werden die Preise langsam genug steigen, dass es möglichst niemand merkt? Wird die Industrie weiter abwandern, werden noch mehr Produktionsanlagen stillgelegt? Ist der weitere planmäßige Verlust an Wohlstand ein zu hoher Preis für das 1,5- oder Zwei-Grad-Ziel? Oder treibt er den Feinden der progressiven Planpolitik weitere Wähler in die Arme?  Das Trauma der französischen Gelbwesten, die das Land lahmlegten, nur wie die Regierung einen nationalen CO₂-Preis von 45 Euro pro Tonne CO₂ einführen wollte, wirkt nach.

Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat deutlich gemacht, dass er sich für sinkende Preise einsetzen will, um die anstehende neue Preislawine durch die CO2-Abgabe abzufedern. Doch der Einfluss der Bepreisung der Luft durch CO2-Zertifikate ist unwägbar. Lahmt die Elektromobilität weiterhin, wird es teuer. Wird es teuer, werden es diesmal auch die Verbraucher spüren. Das würde Europa auf die Füße fallen: 2029 wird ein neues EU-Parlament gewählt. Ein wütendes Wahlvolk könnte erstmals für eine klimafeindliche Mehrheit in Straßburg sorgen. 

Klimaneutral glänzen 

Der Emissionshandel als das zentrale Instrument, mit dem die EU ihre Klimaziele bis 2050 erreichen will, um als erster klimaneutraler Kontinent zu glänzen, soll eigentlich zum 1. Januar 2027 starten. Doch jetzt schon regt sich Widerstand. Tschechien will einen Aufschub um ein Jahr, Polen um drei Jahre, die Slowakei fordert Ausgleichsmaßnahmen, um soziale Verwerfungen zu verhindern, und Estland hat erklärt, es müsse einen zeitlich nicht befristeten Aufschub geben. Doch nach derzeitiger Rechtslage wäre nur eine Verzögerung um ein Jahr möglich. Und das auch nur, wenn die Preise für Öl und Gas durch die neue Steuer "unverhältnismäßig stark" ansteigen.

Für die EU ist das keine einfache Situation, aber glücklicherweise eine durchaus bekannte. Noch immer hat sich Europa handlungsfähig gezeigt, wenn die Folgen selbst getroffenen Entscheidung akut werden. Nach den Regeln für den sogenannten ETS II müsste der Preis für Erdgas in den ersten sechs Monaten des Jahres 2026 höher als der durchschnittliche Gaspreis im Februar und März 2022 liegen und der Preis für Erdöl wenigstens doppelt so hoch wie im Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre. Passiert nichts grundlegend Katastrophales, ist dass kaum vorstellbar: Durch den russischen Angriffskrieg lag der Gaspreis im Berechnungszeitraum zum Teil bei über 20 Cent pro Kilowattstunde, der für Öl bei 60 bis 90 Dollar. 

Es wird eine Katastrophe gebraucht 

Von der Preisfront auf dem Weltmarkt ist Unterstützung für eine Verschiebung also kaum zu erwarten. Und wenn, wäre das Problem noch größer: Stiege der Gaspreis ohne ETS II wieder 20 Cent und der Preis für Öl auf 120 oder 150 Euro, wäre der CO₂-Preis das geringste Problem einer EU, die von Energieimporten abhängig ist. 

Es braucht andere Gründe, um aus der selbstgemachten Falle zu entkommen und den Start des CO2-Preishandels in die Zukunft zu vertagen. Oder neue Argumente, warum eine Einführung niemandem schaden wird. Die alte, in Deutschland inzwischen beerdigte Idee eines "Klimageldes" soll es richten und verhindern, dass "der CO₂-Preis durch schlechte Kommunikation scheitern" könnte, wie der Wissenschaftliche Deinst der EU vorgeschlagen hat. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Kohlendioxidrechten sollen dazu in einen "Klimasozialfonds" fließen und anschließend "zur Abfederung steigender Energiepreise" werden.